Liebes Tagebuch… 74

 

In letzter Zeit häufen sich wieder einmal die Klagen, ich würde über die Ereignisse in der Tangoszene nur negativ berichten.

Selbst wenn ich dies täte und nicht auch eine Vielzahl positiver Einschätzungen veröffentlichte: Ja, Leute, dann liefert doch auf den Milongas mal was Tolles – wie gerne würde ich darüber schreiben!

In meiner Verzweiflung habe ich – nicht zum ersten Mal – kürzlich einem Kommentator einen Gastbeitrag angeboten: Thema nach Wahl, 800-1200 Wörter, sprachliche Bearbeitung durch uns, Veröffentlichung erst nach Genehmigung durch den Autor.

https://milongafuehrer.blogspot.com/2023/04/tipps-fur-private-tangoveranstalter.html?showComment=1682017915505#c1328590239211668481

Bislang habe ich keine Rückmeldung erhalten – und ich fürchte, es wird auch dabei bleiben. War jedenfalls bisher stets so. Ist halt einfacher, einen vernichtenden Kommentar zu verfassen, als ein Thema im Umfang von mehreren Druckseiten sauber zu bearbeiten.

Keinen Hintern in der Hose, aber „La Paloma“ pfeifen…

Glücklicherweise hatte ich neulich auf einer Milonga ein faszinierendes Erlebnis:

Während beim letzten Termin die Besucher wegen eines besonderen Anlasses in Viererreihen einmarschierten, herrschte diesmal Flaute: Ich zählte knapp 15 Gäste, meine Frau und mich eingeschlossen: Klar, diesmal war „nur“ Tanzen angesagt. Und das ist ja in der Tangoszene ziemlich unwichtig.

Nach einiger Zeit fiel mir ein jüngeres Paar auf, das – sagen wir mal – ein wenig „alternativ“ gekleidet daherkam. Lustig – ob die auch tanzen konnten?

Kurz gesagt: Ja, und wie! Die beiden steigerten sich im Verlauf des Abends in einen Rausch, der mich atemlos machte. Was mich besonders ansprach, war nicht nur der eine oder andere choreografische Gag, sondern vor allem die liebevolle und sanfte Abstimmung auch bei heftigeren Aktionen. Und die beiden machten, wenn es die Musik erforderte, auch Pausen! Dabei gelangen „Shapes“ (also „Bilder“), bei denen ich bedauerte, kein Fotograf zu sein.

Mensch, das wären mal Tangobilder ohne den üblichen eitlen Erotik-Schmus im Vierfarbendruck! Ich war begeistert und musste mich zusammennehmen, den Tanz nicht mit lauten Bravorufen zu stören.

Eigentlich unnötig zu sagen, dass die beiden sich voll und ganz „in der Musik“ bewegten. Und die war nicht einfach. Der dortige DJ ist nicht dafür bekannt, es den Tanzenden allzu leicht zu machen. Das Programm fiel wie üblich sehr gemischt aus – nicht alles war Tango. Und wenn, dann oft kein ganz einfacher.

Neulich schrieb mir ein Kommentator:

„Schlicht zu tanzen ermöglicht nämlich mehr Partner:innen zu finden. Das haben Gesellschaftstänze eben so an sich: Tänzerische Komplexität vermindert die Zahl an potentiellen Partner:innen. (…) Traditionelle Tangomusik erleichtert das Tanzen. Komplexe Musik erschwert es.“ (Quelle: siehe oben)

Klar – und ich bin der Letzte, welcher tänzerisch weniger Begabten ihren „Förderschul-Tango“ verwehren möchte. Nur, liebe Leute: Tut auch mal was für diejenigen, welche mehr wollen – und bietet Talenten wenigstens ab und an auch Stücke, die ihren Ehrgeiz anstacheln, wo sie ihre Begabungen umsetzen können!

Sonst werden junge Menschen den Tango weiterhin als „Schwof der Untoten“ meiden. Wo stehen wir dann in 20 Jahren?

Sollte das jüngere Paar meinen Artikel lesen (was ich nicht glaube): Bleibt bei eurem persönlichen Ausdruck und Stil – wie selten ist das heute! Und lasst euch nicht entmutigen, wenn ihr auf vielen Milongas nicht die Musik bekommt, die euch anspornt. Der Tango braucht euch!

Wir fuhren in dieser Nacht wirklich sehr zufrieden nach Hause. Es war ja nicht nur der Eindruck dieses jungen Paares – wir alle hatten endlich mal genug Platz zum Tanzen. Nach meinem Eindruck tat dies auch anderen Paaren gut, die sich im Lauf des Abends deutlich steigerten.

Ja, so schön können Milongas sein, auf denen „nichts los“ ist…

Herzlichen Dank auch an die stets sehr zugewandten Gastgeber!

So weit mein „absolut positiver“ Artikel. Ich ahne, dass er bei den Zugriffen einen Negativrekord aufstellen wird.

P.S. Da ich von den beiden kein Video zeigen kann, hier als Anregung einen Tanz zur Musik von Alfredo Zitarrosa. Wer den Dichter und Sänger (1936-1989) nicht kennt: Er gilt als eine der größten Stimmen der uruguayischen Musik. Könnte man glatt mal auflegen…

https://www.youtube.com/watch?v=tAXtd2-wltA

Kommentare

  1. Seltsam, wir hatten vor kurzem fast das gleiche Erlebnis. Zwar waren nur zehn Leute zu uns gekommen, doch das entspricht mathematisch genau "knapp 15". Auch wir hatten ein junges Paar mit Freude am Tanzen, und der DJ - der wurde zwar des öfteren von seiner Gattin ermahnt, endlich vernünftige Musik aufzulegen, aber seine Sturheit hinderte ihn daran. Wobei die Stimmungslage der Veranstalter auch nicht die beste war. Parallelwelten? Die Schrödingergleichung macht's möglich.
    Jedenfalls vielen Dank für die aufmunternden Worte, wir machen weiter!
    -Peter-

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    1. Lieber Peter,

      wenn du es schon ansprichst, kann ich das Geheimnis auch lüften: Ich beschreibe einen Eindruck bei eurer Milonga "Tango de Neostalgia" in Freising. Den Schrödinger brauchen wir also nicht.

      Ja, macht bitte weiter, wir freuen uns!

      Liebe Grüße, auch von Karin
      Gerhard

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  2. Harald Fitz - FB23. April 2023 um 21:09

    Grandiose Performence ! ... ein Highlight eines communicated Leading/Following Feelings mit viel improvisiererter Freiheit für beide Partner am Parkett, optimal an die Musik angelpaßt - samt Pausen (!) - das sieht man leider selten ! 🤗😊🍀⚘⚘

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    1. Lieber Harald,

      schön, dass dich der Tanz ebenso begeistert wie mich! Ich finde, da wirkt nichts gestellt oder vorgeturnt. Alles entwickelt sich aus der Musik.

      Liebe Grüße nach Wien!
      Gerhard

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