Was ein Maestro sich schuldig ist

Die Debatte über allein herumsitzende Frauen im Tango reißt nicht ab – für mich ein Zeichen, dass dieses Problem real existiert. Mein Artikel dazu fand viel Resonanz – und nun hat eine Facebook-Leserin den ursprünglichen Post von Olli Eyding noch einmal geteilt und dazu geschrieben:

Wir alle sind durch diese Phase von ‚Kein guter Tänzer fordert mich auf‘ gegangen. Das kann frustrierend sein und ‚unsozial‘ erscheinen. Allerdings verstehe ich, umso länger ich tanze, warum das so ist.“

Kürzlich sei sie auf eine Passage im Buch des „Tango-Maestros“ Anton Volkov gestoßen, die ihre Gedanken recht gut zusammenfasse:

Er wisse, dass manche ihn als „hochmütigen Snob“ bezeichnen würden, dass manch eine Tänzerin „beleidigt“ sei, wenn er sie nicht zum Tanz auffordere. Oder Leute einen plötzlich nicht mehr grüßten. Dies alles dürfe man nicht persönlich nehmen – das sei im Tango halt so.

Der Autor vergleicht das mit dem Erlernen des Autofahrens. Die Grundlagen kriege man in der Fahrschule mit – aber die nötige Praxis erst auf der Straße: „Die Macht und die Weisheit erlangen wir dort. Mit den Jahren werden wir zu guten Fahrern.“

Das Ende des Vergleichs führte bei mir zu einer deutlichen Blutdruck-Erhöhung:

Und nun stell dir vor, du sitzt auf dem Beifahrersitz, und ein Fahranfänger fährt dich spazieren. Der Fahrstil versetzt dir alle paar Sekunden einen Stich ins Herz. Und falls es dabei nicht gerade um deine Tochter oder deinen Sohn geht, so wirst du alles daran setzen, nicht so schnell wieder mit ihr bzw. ihm fahren zu müssen, nicht einmal bis zum nächsten Geschäft. Einige Jahre sicherlich nicht.

Und so ist es auch mit dem Tango. Nur dass alles zusammen im Tango noch etwas länger dauert.“

Ah so. Persönlich habe ich kein Problem damit, mich von weiblichen Fahranfängern chauffieren zu lassen. Und ich werde ihnen keine Belehrungen angedeihen lassen. Bei männlichen Neulingen am Steuer bin ich etwas vorsichtiger – vor allem, wenn sie das Fahrzeug als Ego-Prothese verwenden oder gar besoffen sind. Mit welchem Alkoholpegel Herr Volkov seinen Text verfasst hat, weiß ich nicht.

Aber es geht ja noch weiter:

„Gute TänzerInnen haben unschätzbare Zeit, Bemühungen, Geld, Energie und Überlegungen in ihren Tanz investiert. Es liegen Stunden, Tage und Jahre an Übungen hinter ihnen.

Anstrengende Arbeit. Viele Reisen, viele Milongas, viele Menschen.

Aus diesem Grund bin ich völlig beruhigt, wenn unter Anfängerinnen getuschelt wird, dass ich nicht mit ihnen tanzen wolle. Aber ich muss nun einmal an meine Wirbelsäule denken.

Das bin ich mir schuldig. Zumal ich Tango sehr lange und sehr viel gelernt habe, damit er zu einem Teil von mir wurde und ich diesen genieße, so wie ich es genieße, Auto zu fahren.“

Sigmund Freud hätte vor allem am folgenden Satz seinen Spaß gehabt:

Tango ist eine Verlängerung von mir.“

Und so lautet die Conclusio:

„Wenn du gut bist, brauchst du niemanden um einen Tanz zu bitten. Dann wirst du auch von Maestras und Maestros bemerkt und man wird mit größter Freude mit dir tanzen wollen.“

Also echt – wenn mich solche Maestras und Maestros bemerkten, würde ich mein Heil in der Flucht suchen…

Klar, man sollte im Tango üben und sich verbessern wollen – und ich betone auch immer wieder, dass dies Jahre dauert. Aber der Autor deutet ja selber an, dass dies vor allem auf den Milongas geschehe. Aber mit wem sollen dort Neulinge denn bitteschön tanzen? Nur mit ihresgleichen? Oder hat Anton Volkov in der Zeit, als er vermutlich auf dem Parkett mit der Eleganz eines Mehlsacks herumfiel, doch die eine oder andere Könnerin gefunden, die sich geduldig und mit Verzicht aufs eigene Glück seiner annahm?

Aber vielleicht war er ja ein Naturtalent, welches diese Phase übersprungen hat – zumindest in seiner Erinnerung.

Bleiben wir also dabei:

„Wenn ich das richtige Lied höre, mit der richtigen Tanzpartnerin tanze und wir gemeinsam etwas wirklich Schönes und Unwiederholbares schaffen, dann bin ich glücklich. Ich bin nicht bereit, darauf zu verzichten.“

Ich werde mir sein Buch besorgen und – falls es die erwartete satirische Fallhöhe aufweist – auch besprechen:

https://www.amazon.de/-/en/Anton-Volkov-ebook/dp/B083F52YZ1/ref=sr_1_1?crid=1ZVZG81U8U7DJ&keywords=In+der+Umarmung+zwischen+zwei+Schritte%3A+Tango+Argentino+ist+mein+Leben&qid=1681118748&s=digital-text&sprefix=in+der+umarmung+zwischen+zwei+schritten+tango+argentino+ist+mein+leben%2Cdigital-text%2C88&sr=1-1

In seiner vollmundigen Ankündigung schreibt der Autor:

Ist Tango auch dein Leben? Wenn ja, dann wirst du dich in diesem Buch wiedererkennen. Vieles leichter verstehen, wieso, weshalb, warum… Du möchtest Anton Volkov auch persönlich kennen lernen? Von ihm lernen? Als Tangolehrer ist er europaweit unterwegs. Lade ihn in deine Stadt ein! Vor Ort wird er sein gesamtes Know-how gerne mit dir teilen.“

Gleich das ganze Wissen? Geht das an einem Wochenende? Man darf gespannt sein!

Aber dem Autor ist ja selber klar, dass manche ihn als „hochmütigen Snob“ bezeichnen würden. Da muss ich ihm Recht geben.

Offen gesagt ist mir die dünkelhafte Kaste, welche sich nicht erst heute beim Tango ausbreitet, zutiefst zuwider: Leute, die sich mit unzureichender Begründung für den Nabel der Welt halten – wobei ich das Problem eine Etage tiefer sehe. Für die der oberste Maßstab das eigene Wohlbefinden ist, das Abfeiern des (nicht nur tänzerischen) Ego. Und vielleicht sollte man weder an seine Wirbelsäule noch mit ihr denken.

Nein, bei mir muss sich keine Tänzerin „hochdienen“, damit sie einmal der Gnade eines gemeinsamen Tanzes teilhaftig wird. Die glücklichen Augen einer Anfängerin, die es nach drei Stücken toll findet, was uns alles gelungen ist, bedeuten mir ungleich mehr.

Aber ich sehe mich nicht als „Maestro“ – und daher bin ich mir auch nichts schuldig!

Quelle: https://www.facebook.com/lioudmila.pokhis/posts/pfbid0HPv2q8yKLo7hiQfgv9cdKJGWnHZ86iTzhRLT8RCo9Yi6f7geSnc4fTukHWh8ecRal

P.S. Zum gerechten Ausgleich noch ein wenig Werbung für den Tänzer:

https://www.youtube.com/watch?v=wnIg7tUo2EA

Kommentare

  1. Birgit Gründler10. April 2023 um 16:23

    Ja, es ist wahr, dass man Jahre braucht mit viel Übung, Lernen, Praxis, um wirklich gut Tango zu tanzen. Leider ist frau nach diesen vielen Jahren auch viele Jahre älter. Und zumindest nach meiner Erfahrung ist die Kombination - ältere Frau, unbekannte Milonga, gute Tänzerin - nicht eine günstige sondern die ungünstigste aller denkbaren Kombinationen. Es kommt dann nämlich noch der Faktor dazu, dass mann sein Können wirklich zeigen muss und außerdem nicht die Hoffnung haben kann, eine weitere Schülerin zu akquirieren.

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    1. Von der Tendenz her stimme ich zu: Gerade ältere Männer fordern dann lieber junge Anfängerinnen auf, die sie noch beeindrucken können. Und klar, für Tangolehrer sind erfahrene Tänzerinnen nicht gerade das Zielpublikum.

      Kann man daran etwas ändern? Ich versuche halt immer wieder, solche Verhaltensweisen öffentlich zu machen in der Hoffnung, dass man sich auf den Milongas zumindest kritische Blicke abholt. Aber so lange die Damen mitspielen, werden diese Aktionen erfolgreich bleiben.

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  2. Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.

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    1. Sorry, anonyme Kommentare werden nicht veröffentlicht.

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