Binnenkörperlich getanzt mit dem dritten Volumen

Wieder einmal ist es passiert: Thomas Kröter warf seinen Fans ein Standardtanz-Video zum Fraß vor. Die Empöreria reagierte routiniert.

Was zu sehen ist: Ein Paar tanzt Standard-Tango – und das, sagen wir – selbst für die dortigen Verhältnisse äußerst sportiv und heftig. Dazu kurze (unterlegte) Musiktitel, wie sie bei Turnieren eher nicht zu hören sind.

Als Tänzer wird Allan Torres genannt. Auf Facebook hat er eine Reihe von Videos hinterlassen. Offenbar ist er vor allem in der Latein-Sektion aktiv. Man sieht’s seiner Tango-Interpretation auch an. Von irgendwelchen gewonnenen Titeln habe ich nichts recherchieren können – außer eine der Partnerin umgehängte Medaille im FB-Titelbild. Torres scheint aber im Turnier-Sektor fleißig unterwegs zu sein. Von seiner Partnerin konnte ich nichts in Erfahrung bringen.   

https://www.facebook.com/allan.torres.58/?paipv=0&eav=AfYAPcQW-ZD_0EBRYl3nsB5R-EkQsIsCL2oDtlqVZUUtzQerVbS07gaeZbr6HPmLdAk&_rdr

Er tanzt seit dem Jahr 2000 und gibt offenbar auch Tanzunterricht:

https://www.dancetotherhythm.ca/

Hier nun das betreffende Video:

https://www.facebook.com/reel/522297696683975

Wie üblich kamen aus der Tangoszene weitgehend negative Sprüche:

„Vorsicht, ihr Kopf könnte abgehen!“

„Hiiiilfe - ist sowas eigentlich erlaubt? Hat was von Körperverletzung - ich fühle mich jedenfalls Körperverletzt“

„Ja, eine perfekte Karikatur auf den Tango

„Leider ist es keine Parodie…“

Doch, ist ne Parodie, aber die Beiden wissen´s nicht.“

Schleudertrauma, Rückenschmerzen und keine Emotionen, nein danke.“

„Was ich immer schlimm finde an standard ist diese Mimik. Was soll das“

„echt furchtbar“

„Ist fürchterlich, sollte als Körperverletzung verboten werden“

„Grauenvoll“

„Furchtbar, wie kann man freiwillig so tanzen...?“ (auf der Ursprungsseite)

Quelle: https://www.facebook.com/thomas.kroter.5 (Post vom 25.4.23)

Neulich schrieb mir eine Kommentatorin meines Blogs:

„Warum staendig dieses Herziehen ueber Leute, mit denen Sie nichts zu tun haben moechten? Sie haben doch die richtige Schlussfolgerung gezogen, als Sie sich entschlossen, diese Veranstaltungen zu vermeiden. Warum dann dieses oeffentliche Auskeilen gegen Leute, die Ihnen nichts getan haben? Zur gegenseitigen Akzeptanz der unterschiedlichen Stile tragen Sie so nicht bei.

https://milongafuehrer.blogspot.com/2023/04/rilke-tango.html?showComment=1681994156314#c4372160104344939583

An dieser Stelle darf ich das Argument mal weitergeben: Auch die Tanzsportler haben den Tangueros und Tangueras nichts getan. Ich habe von dieser Seite noch nie abfällige Bemerkungen über den argentinischen Tangostil gelesen.

Wie ich immer wieder feststelle: Tango hat sektenartige Züge. Wer oder was nicht dazugehört, wird schonungslos abgewertet.

Aber lästere ich nicht auch, wenn ich beispielsweise Videos von „Langweiler-Tänzen“ bespreche?

Ja, sicher. Das gehört zur Satire! Allerdings recherchiere ich das Ganze gründlich und verfasse meist einen Artikel in der Größenordnung von tausend Wörtern. Ich gebe mir also Mühe. Und ich respektiere stets die künstlerische Leistung – auch, wenn mir ein Tanz (oder ein anderes Produkt) nicht gefällt.

Was mich ärgert: Wenn man in der Tangoszene meint, es reiche ein hingerotzer Spruch. Das finde ich maßlos unfair!

Da ich nun langsam auf Betriebstemperatur komme: Um so tanzen zu können wie Allan Torres und seine Partnerin, muss man jahrelang hart trainieren und sich viele Wochenenden im Jahr auf Turnieren herumtreiben. Zumindest das sollte man anerkennen. Und ja, solche Leute machen das nicht nur freiwillig, sondern mit größtem Ehrgeiz und oft auch Spaß. Sonst tut man sich diese Schinderei nicht an.

Und nachdem ich diese Tour ja in abgeschwächter Weise auch selber erlebt habe: Wenn du in diesem Bereich nicht ein Maximum an Emotionen auf die Tanzfläche bringst, wird das nichts! Das sieht man oft am Gesichtsausdruck.

Daher, liebe Tänzerinnen und Tänzer des edlen und authentischen Tango argentino (inzwischen eine der großen Weltreligionen):

Keine Angst, den Standardtänzerinnen fällt bei den „Headflics“ der Kopf nicht runter – und Schleudertraumata sowie Rückenschmerzen kommen nicht häufiger vor als bei anderen athletischen Sportarten! Komisch, dass nicht viele Millionen den Profifußball wegen der weit heftigeren Verletzungsprobleme ablehnen…

Eins gebe ich zu: Wenn ihr mit euren tangogestählten Wabbelkörpern auch nur einige Takte eines solch sportiven Standard-Tangos probieren würdet, würde eure nächste Mirada dem Anästhesisten gelten!

Schön fand ich auch eine Belehrung, was den Tanz vom La Plata auszeichne:

Da wird binnenkörperlich getanzt mit dem dritten Volumen. Nichts nach aussen“

Leider blieben meine Recherchen nach diesem tanztechnischen Begriff erfolglos. Ich habe stets nur mit einer Partnerin getanzt und war mit deren Volumen meist recht zufrieden. Ein drittes hätte es nicht gebraucht! Und ich habe nicht nur mit dem eigenen Körper getanzt, sondern auch mit dem der Tanguera. Macht einfach mehr Spaß...

Hier noch eine kleine Nachhilfestunde zum Standard-Tango:

https://www.youtube.com/watch?v=kPQF-eINZBk

P.S. Zum Weiterlesen:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2015/10/tango-standard-oder-stand-art.html

Kommentare

  1. Tanztechnik interessiert mich ja ziemlich, daher kann ich zumindest den Begriff "binnenkörperlich" erklären:
    Das sind Bewegungen, die sich innerhalb des Körpers abspielen, z.B. die Drehung der Hüfte beim Ocho, sowohl bei Dir, als auch bei Deiner Partnerin. Ein Schritt wäre nicht mehr binnenkörperlich.
    Aber das dritte Volumen sagt mir absolut nichts...
    Neugierig, wie ich nun mal bin, habe ich bei meinem Lehrer der Tanzlehrerausbildung, der u.a. den "Master of Dance Science" in Bern und in Wolverhampton gemacht hat und gerade seine Doktorarbeit schreibt, nachgefragt. Seine Antwort: "Never heard of"!

    LG
    Carmen

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    1. Na, dann sind wir uns ja einig, was das "dritte Volumen" betrifft!
      Die "binnenkörperlichen Bewegungen" habe ich schon kapiert.
      Danke und liebe Grüße
      Gerhard

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  2. Man könnte mal klugscheißerich zurückfragen, ob der "dritte Aufmerksamkeitsraum gemäß der Eshkol-Wachmann-Bewegungsnotation" gemeint ist

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    1. O Jessas, was is'n des?
      Mir kam eine andere Idee: Vielleicht ist damit das Volumen des ganzen Paars in Tanzhaltung gemeint.
      Aber vielleicht äußert sich ja noch der Verfasser dazu...

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    2. https://www.udk-berlin.de/fileadmin/2_dezentral/FR_Kuenstlr-Paedag-Ausbildung/Musik_und_Bewegung/Diplomarbeit_AnkeZapf-Vaknin.pdf

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    3. Ich hab jetzt mal direkt beim Verfasser nachgefragt...ich lerne ja gerne dazu.

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    4. "Mir kam eine andere Idee: Vielleicht ist damit das Volumen des ganzen Paars in Tanzhaltung gemeint."
      So anders ist die Idee gar nicht ;-)
      Das wäre allerdings nach meiner Quelle der 2. Aufmerksamkeitsraum. Der 3. bezieht das Umfeld auch noch mit ein....würde also bei einer Milonga durchaus zutreffen.
      Was mir gefällt, ist, dass sich der Text auf die Improvisation bezieht, also mein Verständnis von Tango trifft.

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    5. Moin
      wenn der 3.Aufmerksamkeitsraum das Umfeld einbezieht - dann gibt es für das Umfeld auch den Begriff "Empty Space" - also den leeren Raum einzubeziehen bzw. zu füllen.
      Der ist in der Choreografie/Tanz durchaus komplex / verschieden definiert.
      Da gibt es einmal den Raum um das Paar herum - und einmal den Raum zwischen den Tänzern.
      Who is Who ? Das weiß ich grad auch nicht ;)

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  3. Na, jetzt wissen wir es endlich! Gerade erreichte mich ein Kommentar von Michael Pohle aus Hamburg:

    „Eine Beschreibung des ‚Dritten Volumens‘ gibt’s ab der Seite 86 des Buches vom Gloria und Rodolfo Dinzel: ‚Tango - eine heftige Sehnsucht nach Freiheit‘.
    Das dritte Volumen ist eine senkrechte Luftsäule, die vom linken Arm des Herren und rechten Arm der Dame gebildet wird.
    Hier ein Video von Gloria und Rodolfo Dinzel auf YouTube (Vorlauf knapp 1,5 Minuten).
    https://www.youtube.com/watch?v=B642e-OT3F4“

    Herzlichen Dank dafür!

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  4. Zum zentralen Thema meines Artikels erreichte mich gerade ein Kommentar von Klaus Wendel:

    „Herr Riedl,
    ich erlaube mir, (hoffentlich auch Sie) etwas zu diesem Thema zu schreiben, weil ich ausnahmsweise mal mit Ihnen übereinstimme, was die Intoleranz der Tangoszene gegenüber dem Standardtanz angeht.
    Um aber diesem Kommentar eines voraus zu schicken: Auch ich bin kein Freund der „seltsamen Ästhetik“ dieser mittlerweile abstrusen Turniertanz-Paarhaltung.
    Dazu aber später mehr.
    Meine Kritik an der Tangoszene, die ich hier anspreche, betrifft ihre wenigen Kenntnisse über die tänzerischen Fähigkeiten der Tänzer:innen im Turniertanz.
    Die wenigsten Tangotänzer in Deutschland haben so tiefe Tanzkenntnise wie die Tanzpaare der unteren Turnierklassen, ja sogar im Amateurbereich.
    Ich behaupte sogar, dass diese unteren Klassen eine viel höhere tänzerische Schulung haben als die meisten sogar höher qualifizierten TänzerInnen im Argentinischen Tango. Aber in einem anderen Schwerpunkt: im Bewegungsmodus!
    Die Paare im Tango Argentino haben nur eine abgestimmtere Kommunikation zur ad hoc-Improvisation. Aber die haben auch Top-Turnierpaare im Standard.
    Die Zielsetzungen sind nur in beiden Disziplinen unterschiedlich.
    Viele „Empörer" sollten also mal ganz kleine Brötchen backen, was Qualifikation dieser Tänzerinnen angeht.
    Sie beherrschen oft mindestens 5 Tänze im Gegensatz zu 3 Tänzen (wobei die 3 Tangosparten Vals, Milonga und Tango ja sehr ähnlich sind)
    Ich weiß nicht, woher diese Überheblichkeit kommt, nur weil einem der Stil nicht gefällt. Dieser Tanzstil entstammt nämlich dem englischen Ballroom-Tanz, (aber hat sich meiner Meinung nach ästhetisch zu sehr vom „normal-menschlichen Bewegungsempfinden“ entfernt. Selbst eingefleischten Anhängern des Turniertanzes geht die modebedingte exaltierte „rückenmordende" Haltung der Damen inzwischen zu weit).
    Die Trends des seltsamen Bewertungssystems der Trainer im Verbund mir den Wertungsrichtern gehen manchmal seltsame Wege.
    Da stimme ich mit manchen Kritikern überein.
    Auch mir erschließt sich nicht, warum ein Tanzpaar eine „geschlechtsteilnahe“ Haltung (intimer Beckenkontakt) einnimmt, bei der aber die Gesichter so weit abgewendet werden, als wenn die Partner nichts miteinander zutun haben wollten; sie ist völlig absurd und nicht dem normalen gesellschaftlichen Tanzumgang zwischen Mann und Frau entsprechend, schon garnicht mit Beckenkontakt.
    Wenn ich mir dagegen alte Fernseh-Lehrfilme des Ehepaar Fern aus den 60ern ansehe, war diese Paarhaltung noch relativ normal, eben wie in einem Gesellschaftstanz üblich. Ästhetik nimmt manchmal seltsame Formen an.
    Man kann die Tänze Tango Argentino und Standardtänze nicht miteinander vergleichen, haben sie doch völlig unterschiedliche Entwicklungen aus diametral verschiedenen Kulturkreisen durchgemacht. Insofern kann man diese Standardtänze auch nicht durch die „Tangobrille" beurteilen, weil sie ganze andere ästhetische Ziele verfolgen. Wenn man mehr davon versteht, kann man sie auch zumindest dulden, auch wenn sie einem nicht gefallen.
    Das betrifft aber auch Sie, Herr Riedl, was Ihre Kritik an „Stehtänzern“ angeht.
    Wenn man etwas versteht, ist man toleranter.
    Mit freundlichen Grüßen
    Klaus Wendel“

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