Entfesselt in der Seilfabrik?

Anfang Mai steigt in Frankfurt eine dreitägige Tangosause in einem antiken Industriebau, wo man dereinst nicht Tangoschritte, sondern Hanf- und Drahtseile drechselte: Sinnigerweise „La Cuerda“ nennt sich der Marathon, bei dem man das übliche Problem weiblicher Über-Anmeldungen ziemlich euphemistisch beschreibt:

„Wir haben einen tollen Raum, fantastische DJs, köstliches Bio-Essen und wunderbare Tänzer. Was wir auch haben: Mehr Platz und eine Warteliste für Folgende, die wir auch gerne begrüßen würden.“

Was aber als Konjunktiv in der Praxis schwierig werden dürfte. Daher wartet auf die Damen ein Schnäppchen-Angebot der besonderen Art:

„Deshalb bieten wir euch an: Ladet eure Lieblings-Führenden ein und lasst euch von uns einladen. Registriert euch mit zwei Führenden: Als Folgende zahlt ihr dann die Hälfte. Meldet euch mit drei Führenden an: Ihr habt freien Eintritt.“

Na klar, die Dame von Welt bringt sich ihre Schrittchen-Schleicher selber mit... Ich habe das einmal nachgerechnet: Schlappe 175 Euro kostet die Teilnahme (inklusive Wasser, Kaffee und gelegentlicher Lebensmittelversorgung – womit auch immer).

Wenn eine Dame also zwei Führende zum Event lotst, nimmt der Organisator 350 Euro mehr ein und erstattet der Folgenden davon 87,50 Euro. Bei drei Führenden spart sich die Folgende 175 Euro, der Veranstalter streicht 350 Euro mehr ein. Das ist doch ein Deal!

https://www.la-cuerda-tango-marathon.de/twoforhalfthreeforfree

Müssen „Leader“ immer männlich oder „Follower“ stets weiblich sein? Im Anmeldeformular ist nur von diesen englischen Begriffen die Rede – und von Tanzenden mit „Double Role“. Da aber kaum eine Dame ausschließlich die Herrenschritte beherrscht (bzw. umgekehrt), wird klar: Es geht letztlich um die alte Geschlechterzuordnung – und Frauen sollten sicherheitshalber Männer mitbringen, um akzeptiert zu werden: Das 19. Jahrhundert lässt grüßen…

Damit die Weiber nicht auf den Trick verfallen, sich mit maskuliner Begleitung anzumelden, welche dann kurz vor dem Termin leider erkrankt, wird es im Kleingedruckten ziemlich massiv:

„Wenn ihr euch mit einem Partner anmeldet und der Partner zu einem späteren Zeitpunkt absagt, behalten sich die Organisatoren das Recht vor, die Tänzerin auf eine Warteliste zu setzen, ohne dass die Anmeldegebühr erstattet wird. IHR KÖNNT EUCH GERNE AN DEN VERANSTALTER WENDEN, UM DEN PARTNER ZU WECHSELN. Die Änderung des Teilnehmers kann bis zu 7 Tage vor dem Datum der Veranstaltung vorgenommen werden. Im E-Mail-Antrag auf Änderung ist der Teilnehmer verpflichtet, seine vollständigen Daten anzugeben, d.h. Vor- und Nachname, E-Mail-Adresse, Kontakttelefonnummer und Reservierungsnummer. WENN DER NEUE TEILNEHMER AKZEPTIERT WIRD, ERHÄLT DER TEILNEHMER, DER DIE ÄNDERUNG BEANTRAGT HAT, EINE RÜCKERSTATTUNG MIT EINER BEARBEITUNGSGEBÜHR VON X EUR.“

Einfach gesagt: Dann ist das ganze Geld, welches man überwiesen hat, zunächst mal futsch – außer, die Dame findet einen Ersatz. Dann wird nur eine Bearbeitungsgebühr von „X Euro“ fällig. Da wird selbst die Mafia bei den Schutzgeld-Erpressungen konkreter…

Dazu muss man wissen: Anders als im Supermarkt oder beim Gebrauchtwagen-Kauf ist in der Tango-Industrie Vorkasse üblich. Bevor eine Sause beginnt, hat es sich für die Veranstaltenden schon mal gelohnt, da sie auf dem ganzen Schotter sitzen (und da geht es um Beträge von mindestens 30000 Euro). Ob sich auch die Erwartungen des gemeinen Schrittemachers erfüllen, bleibt dem Prinzip Hoffnung überlassen.

Wühlt man sich weiter durchs Kleingedruckte, stellt man fest: Im Zweifel haftet der Veranstalter für gar nix – weder für Unfälle noch bei Abhandenkommen persönlichen Eigentums. Und per Generalklausel kann er letztlich alles ändern:   

„In Ausnahmefällen hat der Veranstalter auch das Recht, das Programm der Veranstaltung zu ändern, den Veranstaltungsort zu wechseln, die Referenten zu wechseln, welche die Veranstaltung durchführen, das Datum der Veranstaltung zu ändern oder den Preis der Veranstaltung zu erhöhen.“

Habe ich schon erwähnt, dass Zurückweisungen nicht begründet werden?  

https://www.la-cuerda-tango-marathon.de/termsandconditions

Ob diese ganzen AGBs zivilrechtlich haltbar sind, bezweifle ich. Aber sicherheitshalber gibt es den ganzen Kram ausschließlich auf Englisch – da werden die Wenigsten akribisch nachlesen. 

Ganz sicher bin ich mir aber: Mit ihren geschlechtsspezifischen Einschränkungen betreiben die Organisatoren ganz klar eine sexuelle Diskriminierung. Und den Frauen hilft auch eine „ausgewogene“ Besetzung mit Führenden und Folgenden nichts: Schönheit und Bekanntheit sowie Alter werden oft genug für das übliche Ranking sorgen (siehe Titelbild des Videos am Schluss).

Wieso überlässt man es nicht den Teilnehmenden, eine sozial verträgliche Atmosphäre zu schaffen, ganz unabhängig vom Geschlechterproporz? Stattdessen schießt man sich mit komplizierten Teilnahmebedingungen von hinten ins eigene Knie…

Überdies dürfte den Damen das Schnäppchen-Angebot finanziell kaum etwas bringen, da die zur Begleitung rekrutierten Männer wohl eher nicht bereit sein werden, für ein Event zu bezahlen, das sie eigentlich nicht besucht hätten.

Ein Gedanke lässt mich schmunzeln: Was, wenn die Tänzerinnen Kerle rekrutieren, die vom Tango völlig unbeleckt sind und dann den ganzen Abend nur am hintersten Tisch vor sich hin stieren? Oder sich sonst wie „abseilen“? Tanzzwang herrscht ja nach meinen Recherchen nicht – verlangt werden nur Grundkenntnisse in Regelkunde:

„Für Sie als erfahrenem Tänzer fast überflüssig zu sagen – aber wir hoffen, dass Ihre Lieblings-Führenden wissen, wie man einen richtigen Cabeceo macht und die Ronda einhält.“

Fragen über Fragen… Genießen wir daher lieber noch ein wenig Veranstalter-Euphemismus:

„Das ist unser Versprechen an Sie und, glauben Sie es, auch an uns: Entfesseln Sie sich und entfliehen Sie für ein Wochenende in die Oase. Während des Wochenendes wollen wir eine Atmosphäre schaffen, in der Sie Ihrem Alltag entfliehen und ein üppiges Tango-Wochenende genießen können.“

https://www.la-cuerda-tango-marathon.de/agenda

Na ja, entfesselt in der „Oase“?

Der Genius Loci der ehemaligen Draht- und Hanfseilfabrik Wilhelm Reutlinger könnte auch in der Tatsache bestehen, dass nach wie vor die Unternehmer den Ton angeben und der gemeine Prolet – und insbesondere die Proletin – wenig zu melden haben.

https://netzwerk-seilerei.net/

Der allgemeine Grundsatz aller Seilschaften besteht ja darin: Einer spinnt immer! 

https://www.youtube.com/watch?v=to_l40E3HHs

P.S. Ein Impressum habe ich nicht gefunden bei kommerziellen Webseiten gesetzlich verpflichtend. So kennt man nicht mal die vollen Namen der Veranstaltenden!

Kommentare

  1. "Da aber kaum eine Dame ausschliesslich die Herrenschritte beherrscht..." Da gibt es sicher einige, und diese Personen sind nicht in der Follower-Kategorie - da hat jemand nicht ganz gelesen.
    VG, Doris Lennart

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Macht nichts, ich bin es gewohnt, dass nicht alle meine Texte ganz lesen.
      Mir ist jedenfalls keine Frau bekannt, die ausschließlich die Schritte einer Führenden lernt. Also gilt sie halt als "Folgende" oder "Double Role"-Tänzerin.
      So viel zu diesem Nebenaspekt.

      Löschen
    2. Danke fuer die Anpassung Ihres Textes. Generell ist mein Eindruck, dass die Akzeptanz der 'Double Role' steigt. Und ich stimme Ihnen zu, dass eine solche Umwerbung der Leader unangebracht ist. Beste Gruesse, Doris Lennart

      Löschen
    3. Bitte sehr!
      Allerdings habe ich an der entsprechenden Text-Passage nichts verändert.

      Löschen

Kommentar veröffentlichen

Hinweis zum Kommentieren:

Bitte geben Sie im Kommentar Ihren vollen (und wahren) Namen an und beziehen Sie sich ausschließlich auf den Inhalt des jeweiligen Artikels. Unterlassen Sie herabsetzende persönliche Angriffe, gegen wen auch immer. Beiträge, welche diesen Vorgaben nicht entsprechen, werden – ohne Löschungsvermerk – nicht hochgeladen.
Sie können mir Ihre Anmerkungen gerne auch per Mail schicken: mamuta-kg(at)web.de – ich stelle sie dann für Sie ein.