Eile mit Weile
Das Sprichwort besagt, man solle mit der gebotenen Schnelligkeit handeln, aber nichts überstürzen.
https://www.phraseo.de/phrase/eile-mit-weile/
Vor zwei Tagen habe ich einen Artikel veröffentlicht, bei dem Protest zu erwarten war – besprach ich doch einen Tanz des international bekannten Tangostars Murat Erdemsel und seiner Partnerin Silvina Tse. Um es kurz zu machen: Ich fand ihre Interpretation des eh schon tranigen Tangos „No te apures, Carablanca“ schlichtweg fad wie 70 Meter Feldweg. Aber einen „Maestro“ (wer verleiht eigentlich diese Titel?) kritisiert man halt nicht…
Auf Facebook gab es entsprechende Kommentare:
„Der Titel ist wundervoll vertanzt. Gefühlvoll, elegant, präzise und traumhaft musikalisch. (…) Warum sollte man gerade aus so einem Lied ein akrobatisches Laufspektakel machen?“
Nein, soll man nicht. Man muss aber auch nicht für Viertelminuten romantisch rumstehen. Zudem steht es Showpaaren ja frei, zu welchem Tango sie tanzen wollen.
Auf meinem Blog wurde ein Kommentator (nach eigenen Angaben studierter Musiker und Musikpädagoge) noch deutlicher:
„Die
Musik wurde hervorragend interpretiert, alle rhythmischen Nuancen mit kleinen
Akzenten umgesetzt, die langsamen, gesungenen Passagen mit Pausen ‚getanzt‘.
Ja, Herr Riedl, passend gesetzte Pausen gehören bei einem gut getanzten Tango
dazu. Noch nie gehört?
Vermute aber, dass Sie diese Umsetzung dank Ihres eigenen musikalisch
eingeschränkten Blickfeldes nicht erkennen können. Nicht jedes Tanzpaar muss
Ihrer geschmacklichen Tendenz zum ‚Apachen-Tango‘ entsprechen. Für mich leben Sie
in Bezug auf Musikalität im Tango in einer Parallelwelt.“
Dank seiner Ausbildung und auch langjährigen Tangotanzens nimmt der Herr eine ausreichende „Expertise“ für sich in Anspruch.
Mist, da kann ich nach 23 Jahren Tango und 55 Jahren Tanzen natürlich nicht mithalten! Und es hilft kaum, dass ich mit einer Musikerin verheiratet bin. Mir gefiel der Tanz halt nicht – und ich habe das mit einer ziemlich genauen Analyse der Videos begründet.
Nein, und ein Fan des „Apache-Tanzes“ bin ich wirklich nicht. So nennt man eine Tanzart, die auf Pariser Jugendbanden Anfang des 20. Jahrhunderts zurückgeht. Da wird die Frau von einem Ganoven schon recht gewalttätig herumgeworfen:
https://en.wikipedia.org/wiki/Apache_(dance)
https://www.youtube.com/watch?v=-rX_SHIZaRI
Ich finde nicht mal verbale Übergriffigkeiten besonders schön. Leider kommen die im Tango öfters vor – vor allem, wenn einem der Geschmack des anderen nicht zusagt. Statt darüber einigermaßen sachlich zu diskutieren, bescheinigt man dem Gegner, er habe keine Ahnung. Anschließend besteigt man laut krähend den eigenen Kompetenz-Misthaufen.
Kurz gesagt: Es „wendelt“ manchmal beträchtlich…
Durch puren Zufall stieß ich gestern auf das Tanzvideo eines anderen Showpaars: Dmitry Vasin and Sagdiana Hamzina interpretieren Piazzollas „Verano Porteño“ (1965) – den „Sommer“ aus seinen „Vier Jahreszeiten“ („Las Cuatro Estaciones Porteñas“). Es spielt das „Solo Tango Orquesta”.
Damit die Musikwissenschaft diesmal nicht zu kurz kommt, hier eine Beschreibung des Werkes aus einem Kammermusikführer:
„Im Sommer (Verano Porteño, Allegro moderato) herrscht die Leidenschaft, wenn die sengende Hitze den Körper verzehrt und auch der Kalender die Temperatur der Liebe ständig steigen lässt. Selbst der Zement in der Stadt glüht. Mühevoll ist es, durch die Straßen zu gehen, die Siesta belastet von dieser schrecklichen feuchten Hitze. Die Musik lässt die Langsamkeit der Stadt erahnen, die erst aufzuatmen scheint, wenn endlich die Sonne versunken ist. Ein einziges Thema wird durch den ganzen Satz hindurch insistierend wiederholt, nur unterbrochen von Soli der Geige und des Bandoneons (Klaviers). Gegen Ende wird die Langsamkeit fast unerträglich, bis der raschere Schluss Erlösung bringt.“
https://www.kammermusikfuehrer.de/werke/4244
Und nun der Tanz dazu:
https://www.youtube.com/watch?v=x2iu9INQTLc
Ich meine, man sieht an diesem Beispiel sehr schön, wie der Tango von Kontrasten lebt: Ständiges Gerenne und Geturne ist ebenso langweilig wie andauernde Zeitlupen-Schleicherei. Und klar, auch Pausen sind wichtig. Am besten dann, wenn auch die Musik welche macht. Ebenso sollte man deren Höhepunkte darstellen.
Nach meiner Einschätzung zeigt dieses Paar all das in eindrucksvoller Weise. Da findet fast jede gespielte Note eine bewegungsmäßige Entsprechung. Im Gegensatz zu Murat und Silvina, die pfundweise Noten auf dem Parkett liegenlassen. Und das ist für mich der hohe Anspruch im Tangotanz: Die Musik wirklich punktgenau abzubilden – und die Leidenschaft und Zerrissenheit, welche gute Stücke und Arrangements bieten: Eilen und Verweilen.
Immerhin haben Dmitry Vasin and Sagdiana Hamzina bei der Tango-Weltmeisterschaft 2018 den Sieg in der Kategorie „Bühnentango“ erreicht. Noch dazu tanzten sie zu einem meiner Lieblingsstücke: „Los Mareados“ („Die Beschwipsten“). 1942 komponierte es Juan Carlos Cobián. Der Text von Enrique Cadícamo beschreibt ein Liebespaar, das sich am Ende der Beziehung noch einmal trifft. Ihre Rückschau ertragen sie nur mit Alkohol:
Rara..
como encendida
te hallé bebiendo
linda y fatal...
Bebías
y en el fragor del champán,
loca, reías por no llorar...
Pena
Me dio encontrarte
pues al mirarte
yo vi brillar
tus ojos
con un eléctrico ardor,
tus bellos ojos que tanto adoré...
https://letrasdetango.wordpress.com/2012/02/07/los-mareados/
Seltsam...
wie in Flammen
Ich fand dich trinkend
schön und verhängnisvoll...
Du hast getrunken
und im Rauschen des Champagners…
lachtest du, um nicht zu weinen...
Kummer
Ich war traurig, dich zu finden.
Denn als ich dich ansah
sah ich sie leuchten
deine Augen
mit einer elektrischen Glut,
deine
schönen Augen, die ich so sehr bewunderte...
Und nun der Tanz dazu:
https://www.youtube.com/watch?v=rx1GHdr_zAM
Es ist nicht nur Geschmackssache, sondern auch schwer in Worte zu fassen, was einen gut getanzten Tango ausmacht. Für mich gehört eine seltsame Art von Getriebensein dazu, das man mit dem ganzen Körper ausdrückt – und nicht egomanisches Herumgestelze. Weniger braucht es Leute, welche ein Crescendo mit dem Zollstock abmessen.
Von den „alten Milongueros“ hört man immer wieder, lediglich Schritte zu machen sei noch nicht tanzen. Ich füge hinzu: keine Schritte machen auch nicht!
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