Murat, der Musikal-Clown

Über Murat Erdemsel habe ich schon geschrieben. Er ist sicherlich ein toller Tänzer und überaus erfolgreicher Tangolehrer. Dennoch, so habe ich bereits damals festgestellt: Besonders effektiv ist er im Verkauf von Tango-Comedy.

https://milongafuehrer.blogspot.com/2017/10/guter-murat-ist-teuer.html

Ein aktuelles Video zeigt nun einen Auftritt bei den „Tango Tagen Halle“, wo er auch etliche Workshops anbot.

https://www.tangomio.de/tangotage/

Worum geht es? Nachdem der Chef sich mit einer güldenen Glitzerjacke kostümiert hat, gibt es eine kurze Video-Einspielung der Haydn-Symphonie Nr. 88. Die Besonderheit: Der Dirigent Leonard Bernstein leitet die Wiener Philharmoniker nur mit Mimik und Blicken.

Dem scheint Erdemsel nun nacheifern zu wollen. Sicherheitshalber lädt er dazu die Showtänzer Gianpiero Galdi und Lorena Tarantino ein. Die Spielregel: Es darf jeweils nur der (bzw. die) tanzen, welche (oder welchen) des Chefs magischer Blick trifft. Allerdings nicht zur Musik Haydns, sondern zu der eines traditionellen Tangos („Junto a tu Corazón“, 1942). Schließlich tanzen auch Paare nur via Augenkontakt miteinander.

Im dritten Akt des Dramas soll das Publikum entsprechende Dreiergruppen bilden und das Ganze nachmachen.

Hier das Video:

Sicherlich ein amüsantes Spiel – und immerhin lernen die Teilnehmenden, mal allein zu tanzen und sich nicht nur an den Partner zu hängen. Und natürlich bringen auch optische Signale ohne Körperkontakt etwas. Wir Neotänzer probieren das ja gelegentlich auf den Milongas, weil wir nicht pflichtgemäß am Tanzpartner pappen müssen.

Aber bei der ach so gerühmten engen Umarmung, bei welcher die beiden kaum Blickkontakt pflegen, sondern die Tänzerin konstant in den Hemdkragen des Tangueros müffelt? An dem Punkt könnte man einmal über das grundsätzliche Konzept nachdenken. Ich glaube aber nicht, dass Tangolehrer die Lernenden auf derart verwegene Gedanken bringen wollen.   

Wahrlich, Murat Erdemsel ist ein begnadeter Entertainer mit einem erheblichen Placebo-Effekt (vom hormonellen Triggern des weiblichen Publikums ganz abgesehen). Wie Patienten nach dem Verzehr einiger homöopathischer Zuckerkügelchen glaubt das Publikum hinterher sicherlich, musikalischer zu tanzen.

Ich fürchte jedoch, dies ist nicht der Fall.

Ein anderes Video habe ich im oben verlinkten Artikel schon besprochen. Zuschauer müssen beim „Tango guapo“ (von Lucio Demare, 1942) die Staccato- und Legato-Stellen spielerisch darstellen. Ein eifersüchtiger Ehemann ist fürs Pointierte, seine sich entschuldigende Gattin fürs Sanfte zuständig. Und einen Sänger (Zuschauer auf Stuhl) gibt es auch. Tosender Applaus – wieder haben ein paar simple Globuli gewirkt!

Hier nochmal das Video:

https://www.youtube.com/watch?v=AMTuko9d5Jw&t=305s

Es ist unglaublich, dass man einen solchen Firlefanz benötigt, um die entsprechenden musikalischen Passagen unterscheiden zu können. Daher fürchte ich, ein solches Publikum wird anschließend ebenso fad tanzen wie vorher. Entertainment ist kein Tanzunterricht.

Im obigen Artikel habe ich dazu geschrieben:

„Und nach solchen Kindergeburtstags-Spielchen ist es wohl nur eine Frage der Zeit, bis uns zur Förderung individueller Tangoentwicklung zu Höchstpreisen Eierlaufen, Sackhüpfen und Würstlschnappen angeboten werden!

Gibt es Alternativen? Da müsste ich etwas weiter ausholen:

Das Grundproblem ist halt, dass man in vielen Jahren die musikalisch Begabten durch öde, stets gleichartige Beschallung wirksam aus dem Tango vertrieben hat. Es ist für solche Menschen eine Höllenqual, hunderte Male zu Stücken tanzen zu sollen, welche sie bereits beim ersten Hören langweilen. (Auch ich wäre ohne die Aussicht auf kabarettreife Szenen für das Blog wohl nicht geblieben.) In den letzten zwei Jahrzehnten hat in unserem Tanz ein gigantischer Personalaustausch stattgefunden. Und nun steht man vor dem Problem, Unmusikalischen musikalisches Tanzen beibringen zu müssen. Das wird nicht funktionieren.

Und auch das wiederhole ich gerne noch zehn Mal: Ein erster Schritt müsste darin bestehen, das Musikprogramm der Milongas interessanter zu gestalten und auch „schwierigerer“ Tangomusik eine Chance zu geben. Der protestierende Ausmarsch Minderbegabter wäre hinzunehmen, da neue, auch jüngere Gäste hinzukämen.

Immerhin gibt es inzwischen mehr Live-Auftritte von Ensembles, welche die alten Stücke zumindest lebendiger interpretieren, öfters auch neue Kompositionen bieten. Oder man spielt wenigstens gelegentlich ihre Aufnahmen.

Dann darf Murat Erdemsel auch weiterhin seine Auftritte als Musikal-Clown absolvieren. Schaden kann es nicht. Ich weise nur darauf hin: Auch in dem Metier gibt und gab es mit Grock oder Cappussi / Flores wahre Meister.       

Hier ein hinreißend dargebotener artistischer Tango – sogar zu moderner Musik!

https://www.youtube.com/watch?v=tS4_hHIweag&t=17s

Kommentare

  1. Ich reiss einfach mal zwei Nebenbemerkungen aus dem Zusammenhang raus:

    "weil wir nicht pflichtgemäß am Tanzpartner pappen müssen"
    Ich fordere ja (als Mann) selbst auf, d.h. meine Tanzpartnerinnen sind mir immer(!) sympathisch, deshalb "pappe" ich gerne mit Ihnen zusammen. Punkt(!) ;-)

    "Und nun steht man vor dem Problem, Unmusikalischen musikalisches Tanzen beibringen zu müssen. Das wird nicht funktionieren."
    Ich möchte behaupten, dass die traditionellen Tanzschulen genau von diesem Effekt leben. Also dürfte das auch gut funktionieren (meine Begründung: was ich auf nem "Abschlussball" oder so einer normalen Tanzschule erlebt habe, was der "Tanzkreis", also die Leute, die länger und voll Freude dabei sind, abliefert. Z.B. bei einem Walzer)

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    1. Ich kenne noch ein paar andere Möglichkeiten, einer Frau zu signalisieren, dasss sie mir sympathisch ist. Darunter auch solche, die meine Bewegungsfreiheit weniger beeinträchtigen.
      Und - ja, klar arbeiten normale Tanzschulen ebenfalls auf diesem Sektor. Die haben nur einen weitaus größeren Kundenkreis.

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  2. Ich finde, Murat Erdemsel hat durchaus sehr gute YT-Videos gemacht, etwa "Form of tango music 3, A TANGO".
    Aber welchen Sinn diese Steuerung durch Blicke beim Tango haben soll erschließt sich mir auch nicht.

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    1. Ich habe nun 20 Minuten Lebenszeit verschwendet und mir das Video angesehen: viel optischer Schnickschnack, lange Monologe des Lehrers, eine ultimativ langweilige Tangoaufnahme (natürlich Canaro, was sonst). Und das Ganze selbstverständlich auf Englisch. Auf meinem Blog biete ich in solchen Fällen deutsche Übersetzungen an...

      Ich fürchte, das Thema aller Murat Erdemsel-Videos ist stets dasselbe: Murat Erdemsel.

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  3. Jeder kann doch eine Milonga mit "interessantem" Musikprogramm und auch „schwierigerer“ Tangomusik veranstalten.
    Ich kann bei Milongas zwischen Profilen wie 100:0, 80:20, 50:50, 0:100 wählen.
    Da ist es doch ein leichtes, einem "phantasievollen" DJ das Mischpult zu überlassen, in der Praxis wird es ja auch gemacht.
    Ich würde nur nicht voreilig ausschließen, dass die große Mehrheit der Tangotänzer "einfach" angenehm tanzen möchte.

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    1. Lieber Martin,

      bitte nimm es nicht persönlich – aber ich kann das Gerede „Jeder kann doch veranstalten, was er will“ nicht mehr gut ertragen.

      Vor einigen Stunden habe ich die Mail einer Tangotänzerin erhalten, die es vor Jahren wagte, eine eigene, etwas „andere“ Milonga zu veranstalten. Vor der Tür fand sich dann ein Vertreter des örtlichen Tangovereins ein, der sie in ein unangenehmes Gespräch verwickelte: Was ihr einfiele, eine neue Milonga zu veranstalten?

      Auch selber habe ich, wie du wissen könntest, viele Erfahrungen dieser Art. Seit Jahren muss ich mich hier immer wieder mit Knallköpfen auseinandersetzen, die mir (und auch meinen Gästen) attestieren, wir hätten vom Tango keine Ahnung. Was dann erst hinter den Kulissen erzählt wird, möchte ich gar nicht wissen. Und das nur, weil wir es wagen, im Tango einiges anders zu sehen, andere Vorlieben haben.

      Daher, lieber Martin, schlage ich dir vor, es selber mal auszuprobieren und etwas Unkonventionelles im Tango zu versuchen. Du wirst erstaunliche Erfahrungen machen! Wenn nicht, kannst du – mit Verlaub – bei diesem Thema nicht mitreden.

      Beste Grüße
      Gerhard

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    2. Na ihr habt ja ein aufregendes Tangoleben, Respekt! Ich werde nächstes Jahr wohl auch in eine relativ progressive Sache involviert sein, aber ich erwarte wirklich keine Erfahrungen dieser Art. Wen es nicht interessiert, der wird es stillschweigend ignorieren.

      Meine bevorzugte Tango-Location bietet alleine für den nächsten Monat Milongas mit folgenden Namen an:
      "Live-Musik", "Tea-Tango", "Halloween", "Epoca de Oro", "Fusion Neo", "Kinosaalonga", "Open-Role".

      Wenn ich an den durchlagenden Erfolg eines wegweisenden musikalischen Konzeptes glauben würde, könnte ich da völlig gefahrlos irgendwo andocken.
      Ich glaube aber nicht daran, und so überlasse ich den Nachweis anderen.
      Meine Stamm-Milonga dort hat für meinen Geschmack ja gute Musik und gute Tänzer.

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    3. Ja, es ist sicherlich vernünftiger, solche Erfahrungen anderen zu überlassen.

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