Verschieberitis

 

Mit Terminen habe ich zunehmend Probleme. Früher galten solche Festlegungen geradezu als heilig – schon, da sie oft lange vorher zu vereinbaren waren. Absagen setzten mindestens den Tod eines nahen Familienmitglieds voraus.

Bis zu meinem 13. Lebensjahr hatten wir ja nicht mal ein Telefon. Dringendes musste man über das Gerät eines Nachbarn mitteilen, eventuell sogar per Telegramm. Änderungen verboten sich schon deshalb, weil sie den Adressaten oft nicht mehr rechtzeitig erreichten.

Heute lacht man natürlich über solche Zeiten: Wenn etwas nicht mehr passt, setzt man mal schnell eine E-Mail oder WhatsApp-Nachricht ab – fertig ist die Laube!

Mit den heutigen Kommunikations-Möglichkeiten hatte ich bei unseren Wohnzimmer-Milongas viel Spaß: Absagen erreichten uns manchmal erst 30 Minuten vor Beginn – natürlich viel zu spät, Gäste von der „Warteliste“ heranzuholen. Offenbar schwebt man in den letzten Stunden vor dem Tango-Beginn in größter Gefahr, sich in den Finger zu schneiden oder den Fuß zu verknacksen. Respektive einem plötzlichen Fieber zum Opfer zu fallen.

Terminpläne sind anscheinend auch der natürliche Feind des deutschen Handwerks, welches bekanntlich wegen der Politik der Ampel-Regierung kurz vor dem Ruin steht. Ein lang ersehnter Besuch wird fast ausnahmslos für den frühen Morgen angekündigt – für meinen Biorhythmus ziemlich katastrophal. Ich frage mich schon lange, wie diese Berufsgruppe den Nachmittag verbringt – wahrscheinlich hat sie frei.

 Das heißt aber nicht, dass die Herrschaften im Blaumann zur angekündigten Zeit auch auf der Matte stehen. Im Zweifel erscheint man eine ganze Stunde zu früh, noch viel öfter zu spät. Wozu hat man ein Smartphone? Da kann man den Kunden ja fünf Minuten vorher über eine Änderung informieren – oder auch nicht.

Nun können Karin und ich im Ruhestand unsere Zeit ziemlich frei einteilen. Wie Berufstätige mit dieser „Verschieberitis“ klarkommen, weiß ich nicht.

Im privaten Bereich bieten Textnachrichten zusätzlich die Möglichkeit, umfänglich zu erklären, wieso es nun nicht klappt – oder nicht so, sondern anders. Jedenfalls vielleicht.

Die einzig vertrauenswürdige Botschaft in vielen dieser Fälle wäre allerdings, dass man entweder sein Leben nicht im Griff hat oder einem der andere ziemlich egal ist. Und man jedenfalls keinerlei Fähigkeiten im Zeitmanagement aufweist. Ärzte haben aus solchen Gründen Wartezimmer.

Klar kann einmal etwas sehr Dringendes dazwischenkommen. Seltsamerweise passiert das manchen Menschen so gut wie nie – und anderen ständig.

Dank der technischen Errungenschaften war die Kommunikation zwischen den Menschen noch nie so einfach wie heute. Mit der Folge, dass man sich auf Abmachungen immer weniger verlassen kann. Alle schimpfen auf die Unpünktlichkeit der Bahn – die eigene ignoriert man. Klar gibt es immer einen Grund fürs Zuspätkommen oder Absagen. Die Frage bleibt, ob der wirklich überzeugend ist.

Generell finde ich es grob ungehörig, bei anderen Menschen Zeit zu buchen und sie ihnen dann zu stehlen. Ich lasse mir das auch nicht endlos gefallen. Ob Privatperson oder Firma – man muss damit rechnen, dass ich Kontakte abbreche. Gerade bei Unternehmen halte ich es für eine schlechte Idee, Personalkosten zu sparen, indem man weniger qualifizierte, aber preiswerte Beschäftigte einstellt und diese mit Überstunden belastet, so dass sie ihre Arbeit gar nicht pünktlich erledigen können. Für mich ist ein guter Service die beste Werbung für eine Firma.

Vor einigen Jahren haben wir uns einen Treppenlift einbauen lassen. Nicht, weil wir schon gehbehindert wären. Ich habe nur keine Lust, zusammen mit einem Getränkekasten die Kellertreppe herunterzufallen und mir den Oberschenkelhals zu brechen – in meinem Alter oft der Anfang vom Ende nicht nur der Tangokarriere. Und irgendwann brauchen wir den fahrbaren Sessel wahrscheinlich auch aus gesundheitlichen Gründen.

Ich kann diese Investition nur empfehlen. Abzüglich der öffentlichen Förderung und mit den Steuervorteilen ist sie nicht unerschwinglich.

Das beschert uns jedes Jahr den Besuch eines Technikers der namhaften Firma, welcher eine nicht ganz billige Inspektion durchführt. Einige Jahre ging das gut. Heuer aber sagte eine Dame vom Kundendienst den Termin kurzfristig telefonisch ab – ohne nähere Begründung um eine Woche verschoben. Und die neue Uhrzeit? Ab acht Uhr. Nein, das war mir zu vage, das kann alles oder nichts heißen – in solchen Fällen habe ich schon stundenlang gewartet! Man möge uns also eine halbe Stunde vorher Bescheid sagen. Tatsächlich geschah das auch – vielleicht war mein Ton im Vorfeld kritisch genug.

Erfahrungsgemäß werden solche Verschiebungen nicht besser. Was, wenn es nächstes Jahr wieder heißt: „Leider können wir den Termin nicht einhalten“?

Ich habe schon eine Antwort parat:

„Na ja, meine Frau hängt halt seit drei Tagen mit dem defekten Lift über der Kellertreppe fest. Aber es wird schon noch gehen, ich bringe ihr jeden Tag Essen und Getränke. Und nachher kommt ein Reporter der Lokalzeitung vorbei, um darüber zu berichten. Ich darf doch Ihre Firma nennen?“

P.S. Im folgenden Video erklärt man Ausländern den hohen Stellenwert der Pünktlichkeit hierzulande. Muss sich um eine ältere Produktion handeln…

https://www.youtube.com/watch?v=iwuQ2YWiLdU

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