Schreiben oder Tanzen?

 

„Journalismus ist etwas zu veröffentlichen, was andere nicht wollen, dass es veröffentlicht wird. Alles andere ist Propaganda.“ (George Orwell)

Die von mir sehr geschätzte Tangolehrerin und Veranstalterin Steffi Stenzel hat zu meinem Artikel „Cassiel,hilf!“ auf Facebook einen bemerkenswerten Kommentar verfasst:

„Zwei Fragen – ganz ketzerisch: Vielleicht sind viele Menschen wirklich mehr am Tanzen als am Schreiben interessiert (Vieles, was von vielen geschrieben wurde, ist ohnehin sehr verkopft und somit für Körperkommunikation und -gefühle nicht besonders ertragreich)? Und vielleicht ist ohnehin schon längst alles gesagt, was es zu sagen gab (nur noch nicht von allen – frei nach Karl Valentin)?

Das ist eine rein persönliche Einstellung, die ich aber so oder ähnlich auch im gesamten Bekanntenkreis immer wieder höre.

Stark verkürzt: Warum übers Tanzen schreiben, wenn man die gleiche Zeit stattdessen mit Tanzen verbringen kann? Da wüsste ich jedenfalls, was ich wähle.“

Ob Menschen mehr am Tanzen als am Schreiben interessiert sind, ist sicher eine spannende Frage. Noch wichtiger erscheint mir als Blogger, ob das fürs Lesen gilt. Nach der „Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung“ (IGLU) ist der Anteil der Kinder, die nicht über eine ausreichende Lesekompetenz verfügen, gegenüber 2016 deutlich angestiegen: Jedes vierte Kind verlässt die Grundschule ohne ausreichende Lesefähigkeiten.

https://www.stiftunglesen.de/ueber-uns/newsroom/pressemitteilung-detail/iglu-studie-bestaetigt-mangelnde-lesekompetenz-von-grundschulkindern-was-jetzt-passieren-muss

Ob sich das im Erwachsenen-Alter ändert, scheint mir fraglich – zumal, wenn man Beiträge in den sozialen Medien zum Maßstab nimmt. In der Primaten-Evolution jedenfalls hat die Entwicklung der Sprache eine entscheidende Rolle gespielt – und die Schrift blieb sowieso dem Homo sapiens vorbehalten. Es geht also schon um zentrale kulturelle Errungenschaften. Eine Bewegungssprache dagegen kennt schon die Honigbiene.

Dass man Tangotanzen nicht in erster Linie durch sprachliche Darlegungen erlernt (obwohl das viele Tangolehrkräfte nach wie vor versuchen), habe ich oft genug betont. Für meinen Satz „Die Birne kann nicht tanzen“ beanspruche ich das Urheberrecht. Ohne die Grütze zwischen den Ohren klappt es aber auch nicht immer. Ebenso wie das Schreiben.

„Verkopfte“ Erörterungen jedenfalls möchte ich, so gut es geht, vermeiden. Stattdessen versuche ich öfters, witzig zu sein, denn Lachen entspannt – und das hat der heute oft verkrampfte Tango bitter nötig. Dass manche darob beleidigt sind, gehört zu den unvermeidlichen Kollateralschäden.

Zudem – diese Einschätzung habe ich häufig veröffentlicht – ist die Mehrzahl im Tango auch nicht direkt am Tanzen oder gar an der Musik interessiert, sondern am Besuch von Veranstaltungen. Aber gut, das muss jeder und jede selber beurteilen.

Ist im Tango schon alles gesagt, was es zu sagen gab? Wenn man den klugen Reden im Tangounterricht lauscht, könnte man es meinen. Und es wird ständig das aufgelegt, was schon zig-tausendfach gespielt wurde. Erst recht getanzt, was man schon seit Jahren tanzt. Seltsamerweise beschweren sich da die meisten überhaupt nicht.

Ich halte mich an das Erfolgsrezept der katholischen Kirche, die seit zweitausend Jahren dasselbe Programm spielt. Und wenn Geistliche die Ministranten in Ruhe ließen, könnte das noch ewig gutgehen.

Wer schreibt, sollte die Illusion begraben, das Rad neu zu erfinden. Der Autor Christopher Booker beschreibt in seinem Buch „The Seven Basic Plots: Why We Tell Stories“, dass Geschichten und Erzählungen mit nur sieben grundlegenden Plots auskommen.

https://de.wikipedia.org/wiki/The_Seven_Basic_Plots

Das entspricht in etwa der Zahl von Grundbewegungen, die man auf normalen Tangopisten beobachten kann.

Steffi Stenzel setzt das „Argumentum ad populum“ ein: Alle sagen es. Jedenfalls ihre Bekannten. Natürlich hält sich so das „Ketzertum“ in Grenzen.

Warum also sollte man das Schreiben vorziehen, wenn man die gleiche Zeit auch mit Tanzen verbringen kann? Na ja, fragt sich halt, mit welchem Tanzen! Ich gehöre zur Minderheit von Menschen, die sich gerne zu vielgestaltiger Tangomusik bewegen – und allzu strenge Reglements nicht mögen. Während man solche Veranstaltungen vor vielen Jahren mühelos fand, muss man heute weite Strecken fahren, um gelegentlich Milongas dieser Art zu besuchen. Wer im Mainstream schwimmt, den plagen solche Sorgen natürlich nicht,

Bevor ich mich dann den ganzen Abend beim Tango langweile, schreibe ich halt lieber einen Artikel – ganz zu schweigen davon, dass mir weitere Reisen altersbedingt nicht mehr so leichtfallen.

Wer mit den heutigen Verhältnissen zufrieden ist, hat natürlich wenig Bedarf, wenigstens auf dem Papier für Alternativen zu werben. Oder solche Vorschläge zumindest zu lesen. Es passt ja alles! Wozu dann Diskussionen?

Ich finde, jede Szene verarmt, wenn es nicht mehr zum Austausch von Argumenten, zu gegensätzlichen Perspektiven kommt. Fehlentwicklungen sind dann nämlich Tür und Tor geöffnet.

Wahrscheinlich bin ich bei diesem Thema ein Kind meiner Zeit: Als Jugendlicher habe ich erlebt, dass man schon als links und (daher) destruktiv galt, wenn man das Wort „Diskussion“ überhaupt benutzte. Schließlich sei doch alles in bester Ordnung! Fragte sich halt, für wen…

In einer kirchlichen Verlautbarung las ich damals einen Satz, den ich mir bis heute gemerkt habe:

„Wir brauchen keine ‚Diskussion‘, sondern das brüderliche Gespräch.“    

Solche Sätze klingen, wiewohl ungegendert, wirklich toll. In Wahrheit aber hatte die Amtskirche schlicht keine Lust, sich mit uns jugendlichen Quälgeistern abzugeben.

Bin ich mehr am Schreiben als am Tanzen interessiert? Die Wahl fiele mir schwer – beides sind seit meiner Jugendzeit Leidenschaften, denen ich anhänge. Nicht nur Tanzen, auch Sprache ist etwas Wunderbares. Und sie ist mindestens so kreativ, wie ein gut getanzter Tango sein könnte.

Kann Gesprochenes oder Geschriebenes etwas Positives bewirken? Na klar! Sätze wie „I have a dream“ haben die Welt verändert. Natürlich nur, falls die Menschen Sprache und Schrift noch verstehen. Und es sich nicht um „Neusprech“ wie in George Orwells Roman „1984“ handelt. Darin wird die Bedeutung dieser neuen Sprachform beschrieben:

„Das ganze gedankliche Klima wird ein anderes sein. Genau genommen wird es gar keine Gedanken mehr geben, wie wir sie heute verstehen. Die richtige Gesinnung zu haben, bedeutet, dass man nicht denkt, nicht zu denken braucht. Die richtige Gesinnung ist unbewusst.“

https://de.wikipedia.org/wiki/Neusprech

Vor diesem Schicksal möchte ich nicht nur den Tango bewahren.

Glücklicherweise leben wir in einer ziemlich freien Gesellschaft. Es steht einem offen, ob und was man lesen möchte – und selbst zum Tango wird niemand gezwungen. Und ich sehe auch keine Notwendigkeit, mich ausschließlich für das Schreiben oder Tanzen entscheiden zu müssen. Für mich jedenfalls funktioniert auch beides nebeneinander, oft sogar besser als nur das eine oder andere.

Dass Steffi Stenzel lieber tanzt als darüber schreibt, ist Ausdruck ihrer persönlichen Freiheit. Ich wehre mich nur dagegen, wenn es so klingt, als seien Texte über Tangofragen sinn- und nutzlos. Das müssen sie nicht mal für Leute sein, die alles so bleiben lassen wollen, wie es ist. Und für die anderen erst recht nicht!

Illustration: www.tangofish.de

 

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