Der Prinz und die Erbsen

 

In der Facebook-Gruppe „Tango Friends – What’s going on?“ las ich heute eine Frage, die zur Verflachung meiner Atmung führte:

„Die lokalen Milongas

Auch das ist ein sehr häufiges Thema im Tango. Immer wieder hören wir von anscheinend ‚fortgeschrittenen Tänzern‘, dass sie nicht mehr zu lokalen Milongas gehen, weil sie entweder langweilig sind, weil das Tanzniveau niedrig oder die Musik nicht gut ist.

Diese Leute gehen lieber zu Marathons (von Festivals ganz zu schweigen, die sind ‚für Anfänger‘) als zu irgendeiner anderen Veranstaltung. Manche gehen sogar nur zu exklusiven Marathons, wo sich ausschließlich die angebliche ‚Crème de la Crème‘ trifft.

Hier gibt es zwei Seiten der Medaille. Die eine ist die Seite, auf der ich einige Leute verstehe, die es satthaben, von Tänzern und Veranstaltern in ihren örtlichen Milongas belästigt zu werden, die versuchen, sie zum Tanzen mit anderen Leuten zu drängen, mit denen sie nicht tanzen wollen.

Ich kenne Personen, denen der Rücken wirklich weh getan hat, solche, die den Abend mit starken Schmerzen in den Armen, Schultern oder im unteren Rücken beendet haben, Leute, die einfach keinen Spaß mehr hatten, wenn es niemanden gab, mit dem man so tanzen konnte, dass es angenehm war.

Aber die andere Seite der Medaille, die wir auf keinen Fall außer Acht lassen sollten, ist die folgende: Ich bin ein reisender Lehrer, das heißt, ich habe keine Basis. Ich ziehe jede Woche von einer Stadt zur anderen und gebe Workshops und Privatunterricht. Und was habe ich in den 13 Jahren, in denen ich das tue, auf all diesen Reisen gesehen?

Istanbul, Athen, Moskau, Berlin, Seoul, sie alle haben große und gute Tanzgemeinschaften. Wie haben sie das erreicht? Weil sie überfüllte lokale Milongas haben, wo jeder zum Tanzen hingeht, und die sogar Lehrer und ‚fortgeschrittene‘ Tänzer regelmäßig besuchen.

Ich habe keine Formel, um das Problem zu lösen. Ich möchte auch nicht zu einer Milonga gehen und von den Organisatoren und Tänzerinnen belästigt und gedrängt werden, mit allen zu tanzen. Meine Umarmung und mein persönlicher Raum sind mir zu wertvoll, um sie einfach irgendwo zu teilen.

Aber ich weiß auch, dass es ohne örtliche Milongas sehr schwierig ist, eine starke lokale Gemeinschaft mit einem durchschnittlichen Tanzniveau aufzubauen, das man als gut bezeichnen kann. Wir müssen lokale Milongas unterstützen, und wir müssen die Leute auch lassen, wie sie sind, und tanzen, mit wem und wann sie wollen.“

Erstaunlicherweise kam der Schreiber mit seiner Einstellung vielfach gar nicht gut an. Einige Beispiele:

„Was auch helfen würde, wäre, wenn die Veranstalter nicht immer wieder dieselben Leute zum Tanzen drängen würden, wenn sie es selbst nicht tun. Ich bin ein geiziger Arsch, und ich hasse es, für eine Milonga zu bezahlen, nur um für einen Veranstalter zu arbeiten und wie ein freier Taxitänzer zu tanzen.“

„Wenn Sie möchten, dass ich in Workshops oder Kurse bei diesen fortgeschrittenen Tänzern investiere, seien Sie besser ein wenig bescheiden und tanzen mit allen, wenn Sie lokale Veranstaltungen besuchen. Ich war schon auf Veranstaltungen, nicht nur für Tango, sondern auch für andere lateinamerikanische Tänze, wo sich in einer Ecke die fortgeschrittenen Tänzer versammeln und nie mit dem Rest von uns tanzen, sondern nur miteinander. Ich frage mich immer, warum das passiert: Auch Lehrer, die nur mit den Schülern tanzen, die Privatstunden nehmen, aber nicht mit denen, welche die Veranstaltungen besuchen, die sie (die Lehrer) organisieren, und dafür bezahlen. Sie wollen Stammkunden, also zeigen Sie ihnen Wertschätzung. Die Konkurrenz ist nicht weit!“

„Ich bin eine Anfängerin im Tango. Ich habe in wöchentliche Gruppenstunden investiert, zu denen ich wöchentliche Privatstunden hinzufügte, und wöchentliche Practicas für fast ein Jahr. Ehrlich gesagt habe ich die in diesem Beitrag beschriebene Exklusivität vom ersten Tag an erlebt. Und ich habe erkannt, dass dies ein Hobby ist, dem ich nachgehen möchte, um die Freude am Tanzen zu erleben und auf der Ebene von Körper, Geist und Seele zu wachsen. Nachdem ich jenen Beitrag gelesen habe, der die Probleme dieser Szene verdeutlicht, frage ich mich, ob Tango der richtige Tanz ist, um weiterzumachen.“

„Der Besuch von Tanzveranstaltungen, sei es Tango oder eine andere Form des Tanzens, sollte Spaß machen und Freude bereiten. Es sollte keine Plattform sein, um sein Können zu demonstrieren. Leider finde ich, dass der Tango in diese Kategorie fallen kann und einen Elitismus demonstriert, den er nicht verdient.“

„Es liegt an uns allen, daraus eine GEMEINSCHAFT zu machen. Nicht zu einem bizarren Ort, an dem man sein Ego pflegt, egal ob man Tänzer oder Organisator ist.“

Quelle: Tango friends - What’s going on? | Facebook (Post vom 15.9.24)

Ich bin so frei, in einer noch deutlicheren Weise zu antworten:

Lieber Fragesteller,

von mir aus darf jeder Tangomensch die Veranstaltungen besuchen, welche seiner Neigung entsprechen. Und wer es unangenehm findet, von anderen dazu „gedrängt“ zu werden, mit Partnern unter seinem „Niveau“ zu tanzen, hat sowieso eine Einstellung, die ich nicht nur im Tango gruselig finde. Sind wir in unserer Anfängerzeit nicht dankbar dafür gewesen, dass erfahrene Leute mal mit uns tanzten – und haben wir dabei oft nicht mehr gelernt als in irgendwelchen Kursen? Aber klar: Manche sind wohl schon als Super-Tänzer zur Welt gekommen – die Hebamme hat es nur nicht gleich gemerkt!

Dass gerade Tangolehrkräfte und Organisatoren sich zu fein sind, dem tänzerischen Plebs zu nahen, bemerkt jeder Anfänger und jede Anfängerin schon nach kurzer Zeit. Leider finden sich die meisten damit ab.

Der Reiz des Tango liegt für mich gerade darin, dass jeder Tanz ein Abenteuer ist – und nicht eine Demonstration gefühlter Qualität.

Was aber nun Sie persönlich betrifft: Meines Wissens hat Sie niemand dazu gezwungen, Tangounterricht zu geben. Und wenn Ihr Geschäft nicht gut genug läuft, eine feste Tanzschule zu etablieren, liegt das auch nicht an den anderen.

Ihnen scheint nicht bewusst zu sein, dass Sie halt für Ihr Geld arbeiten müssen. Und ja – da tut einem hinterher oft alles Mögliche weh. Dass dies manche ihrem Luxuskörper nicht zumuten wollen, ist verständlich, wird aber nichts nützen. Wenn Sie Kundschaft haben wollen, ist es keine gute Idee, solche Leute auf den Milongas zu ignorieren.

Dass ein solches arrogantes Verhalten oft sogar Erfolg hat, halte ich für völlig unverdient.

Also – wenn ihr empfindliches Hinterteil derartig an den kleinen grünen Kullerchen leidet, sollten Sie sich auf Ihr Prinzen-Schloss zurückziehen. Rundherum möglichst mit Wassergraben und Krokodilen.

Mit den besten Wünschen für Ihre berufliche Zukunft

Ihr Gerhard Riedl

P.S. Dazu zwei persönliche Eindrücke:

* Ich kenne eine Tangolehrerin, die bei jeder ihrer Milongas Schwerstarbeit leistet – vom Begrüßen der Gäste bis zu vielen Tänzen mit ihnen, wobei sie oft selbst auffordert – Frauen wie Männer. Dazu legt sie manchmal auch noch selber auf. Ich wäre nach solchen Veranstaltungen scheintot – aber offenbar wirkt das Tango-Adrenalin gigantisch. Es geht also auch anders!

* Lustigerweise am selben Ort fiel mir eine Tänzerin auf, die immer wieder Blicke in meine Richtung sandte. Kannten wir einander? Leider war die Dame ziemlich spät erschienen, und wir waren müde und wollten bald heimfahren. Als ich schon fast an der Tür war, hielt sie mich auf: „Gerhard, kennst du mich nicht mehr?“ Eine vage Erinnerung war mir auch schon gekommen, ich hätte sie aber nicht mehr zuordnen können. „Als ich vor einigen Jahren Anfängerin war, hast du mich aufgefordert. Ich war schrecklich nervös, aber du hast mich beruhigt und mir das Gefühl gegeben, dass es mit dem Tango etwas werden könnte.“

Ich schreibe das nicht, um mich hervorzuheben. Im Gegenteil: Wenn wir im Tango nicht alles falsch gemacht haben, sollte es viele solcher Geschichten geben. Sie würden dem Ruf unseres Tanzes guttun!

Das hohe Ross * www.tangofish.de


 

   

 

 

 

 

 

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