Also, fragen kann Melina…

Die Tangolehrerin Melina Sedó erleidet immer mehr Anfälle von Realismus – na, warum nicht gleich so? Auf ihrer Facebook-Seite schrieb sie vor zwei Tagen:  

„Frage an die Lehrerkollegen und Organisatoren:

Ich sehe immer noch viele Ankündigungen für Workshop-Wochenenden, in denen hauptsächlich Schritte (Sequenzen) unterrichtet werden. Manchmal gibt es auch 1-2 Lektionen über Kommunikation, Umarmung, Grundtechnik oder Musikalisches. Aber sie sind selten und werden nicht einmal zu Beginn eines Wochenendes angeboten, wo sie als Grundlage Sinn machen würden. Oft sind sie irgendwo zwischen den Sequenz-Kursen versteckt.

Zumindest könnten diese in einer logischen Reihenfolge präsentiert werden. Wäre es z. B. nicht sinnvoll, zuerst den Kurs über Ochos und dann Giros und dann zu einem fortgeschritteneren Thema zu geben? So dass die Teilnehmer einen logischen Lehrplan aufbauen können, der mit der am wenigsten komplexen Bewegung beginnt?

Ehrlich gesagt klingen die Beschreibungen solcher Workshop-Wochenenden für mich wie aus den frühen 2000er Jahren.

Warum ist das so? Glaubt ihr, dass niemand die Grundlagen braucht, oder unterrichtet ihr sie einfach nicht gerne? Ist jeder schon so weit fortgeschritten, dass er nicht mehr an seinem Gehen, der Umarmung, den Ronda-Skills oder der Musikalität arbeiten muss? Von der Improvisation ganz zu schweigen...

Na gut. Schluss mit dem Geschimpfe.“

Ach, von mir aus könnte Melina gerne weitermachen! Ich meine, das Thema hätte es verdient. Interessant finde ich, dass den meisten Kommentatoren das Problem durchaus bewusst ist. Eine Auswahl (von mir übersetzt):

Die Realität ist, dass sich schicke Figuren verkaufen, aber keine Grundlagen. Aber du weißt das. Der Trugschluss, der immer wieder angeführt wird, ist, dass man ein besserer Tänzer wird, wenn man zu den Workshops kommt und diesen auffälligen Schritt oder jene Figur lernt. Wir alle wissen, dass das nicht stimmt. Man muss die Grundlagen beherrschen, um das schrille Geräusch überhaupt zu versuchen.“

„Es spielt keine Rolle, was in der Beschreibung steht – innerhalb der ersten 10 bis 30 Minuten werden die Lehrer ihren Plan anpassen, weil die Teilnehmer ihre Fähigkeiten überschätzt haben und den ursprünglichen Inhalt des Unterrichts nicht erfüllen können. Oder es gibt Teilnehmer auf dem richtigen Niveau, und die Lehrer wiederholen schnell die Grundlagen und fahren mit den fortgeschritteneren Themen fort, während sie die Teilnehmer auf dem falschen Niveau mit Aufgaben auf ihrem Level zurücklassen.“

„Die Lehrer, die Schritte unterrichten, versuchen, ein Publikum anzusprechen und dieses Publikum so lange wie möglich zu halten. Es geht um Wahrnehmungen, und die sind auf beiden Seiten fehlerhaft. Die Lehrer fürchten, dass sie keine Schüler bekommen, und die Schüler haben ein falsches Bild vom Tango. Sie füttern sich gegenseitig, und so geht es weiter. Das Land der ewigen Anfänger.“

„Leider konnte ich OFT nicht mit gutem Gewissen zu fortgeschritteneren Techniken übergehen, weil die Schüler sich weigerten, den Grundlagen die Aufmerksamkeit zu widmen, die sie brauchten, um voranzukommen, ohne sich selbst zu verletzen... Ich habe mich gerade vom Unterrichten zurückgezogen, um mich nach einem Jahrzehnt dieses frustrierenden Zyklus, der mich auslaugt, wieder mit meiner Liebe zum Tanz zu verbinden.“

„Oder (noch schlimmer) einige Lehrer haben keine Ahnung vom Konzept der logischen Struktur in ihrem Unterricht. Trotzdem unterrichten sie Sequenzen. Abgesehen davon sind die meisten ‚Figuren‘-Workshops am darauffolgenden Montag sofort wieder vergessen. Und das ist eine Tatsache, fragen Sie einfach irgendeinen Tänzer.

Während ein guter Workshop ‚zurück zu den Grundlagen‘ – Haltung, Verbindung, Musikalität – eine große Wirkung hat, die bleibt. Und zwar für eine lange Zeit!“

Quelle: Melina Sedó - Question to teaching colleagues and organisers: I... | Facebook

Ich habe in meinen Artikeln oft genug darauf hingewiesen, dass es in der Mehrzahl der angebotenen Kurse oder Workshops um neue „Figuren“ geht, weil diese anscheinend viel mehr Zulauf haben als Tanztechnik oder andere Grundlagen. Wenn die Saarbrücker Tangolehrerin nun auch auf dieses Problem kommt, soll es mich freuen!

Das Publikum will halt etwas „Neues“ – und die altbekannten Basics, so meinen die meisten, würden sie ja bereits beherrschen.

Natürlich ist das eher nicht so, weshalb es viel Spaß macht, Paare nach einer Unterrichtseinheit bei ihren „neuen Figuren“ zu beobachten, wobei man sich häufig an urkomischen Tangoparodien delektieren kann.

Die Lernenden leiden vielfach an Selbstüberschätzung, was offenbar öfters dazu führt, dass Unterrichtende nach kurzer Zeit ihr eigentliches Programm deutlich reduzieren müssen, da die eigentlich geplanten „Schritte“ zu hoffnungsloser Überforderung führen würden.

Aber wer will schon zugeben, dass er im Tango längst nicht so weit ist, wie er (oder sie) glaubt? Wahrscheinlich lag es am Lehrpersonal, was dazu führt, beim nächsten Mal noch berühmtere Instrukteure zu buchen – mit ebenso wenig Erfolg. Ein schönes Beispiel hat vor einiger Zeit Jochen Lüders beschrieben:

https://jochenlueders.de/?p=17055

Daher meine ich: Die meisten Gruppen-Lehrveranstaltungen im Tango bringen wenig bis nichts. Entweder die Lernenden oder die Lehrenden sind überfordert – oft genug beide.

Was mir auch bei diesem Thema wieder einmal auffällt: In der ganzen obigen Diskussion wird die Musik mit keinem Wort erwähnt. Anscheinend spielt sie beim Nachdenken über den Unterricht überhaupt keine Rolle. Beim Erlernen eines Tanzes eine ziemlich merkwürdige Einstellung!

Es würde mich schon interessieren, ob man es für spannend hält, längere Zeit per Caminar zu monotonem Gedudel im Kreis zu marschieren. Zu komplexerer Musik könnte tatsächlich das Eingehen auf Gehörtes erlernt werden – und die Erkenntnis entstehen, dass musikalisches Tanzen auch mit einfachen Bewegungen möglich ist.

Diesen Gedanken predige ich nun seit 14 Jahren. Bereits in der Erstausgabe meines Tangobuches heißt es:

„Warum lehrt man immer wieder neue Schrittkombinationen zu einer stets gleichen Musik? Wieso nicht die unterschiedlichsten Kompositionen und Einspielungen, denen man die erworbenen Choreografien laufen neu anpassen muss – also lieber mehr Musik zu weniger Schritten als umgekehrt?“ (S. 296-297)

Daher kann ich Lernenden im Tango nur empfehlen:

Hebt euren Hintern auf, organisiert eine Übungsgruppe und trefft euch (soweit Platz ist) reihum. Arbeitet mit einem Erfahrungsaustausch zwischen Neulingen und Erfahreneren – und probiert, euch zu verschiedenster Tangomusik zu bewegen! Notfalls könnt ihr sogar mal eine gute Tangolehrkraft dazu bitten.

Darüber ist natürlich in den Diskussionen der Experten-Liga nichts zu lesen. Der Grund erscheint einfach: Das Geschäft mit dem Unterricht würde weitgehend zusammenbrechen. Und Geld ist stets ein gutes Motiv, Fortschritte zu verhindern. Daher wird Melina zwar fragen, sich aber hüten, eine vernünftige Antwort zu geben.

Eine wahre Geschichte, über die ich heute noch lachen kann:

Eine lokale Tangogruppe heuerte vor Jahren einen Tango-Profi für regelmäßigen Unterricht an. Natürlich war ich gespannt auf die Fortschritte, die ich allerdings auch nach längerer Zeit kaum erkennen konnte. Ich fragte daraufhin einen Tangofreund:

„Sind dir schon irgendwelche Effekte seines Unterrichts aufgefallen?“ Seine Antwort: „Ja, er hat jetzt ein neues Auto.“

Auf YouTube habe ich nach Videos zu den „Tango Basics“ gesucht. Leider versteht man darunter fast ausschließlich Grundbewegungen. Von Melina und Detlef habe ich dann eine 17 Jahre alte Aufnahme gefunden:

https://www.youtube.com/watch?v=p69C1f4pPdw

P.S. Zum Weiterlesen:

http://milongafuehrer.blogspot.com/2022/05/so-konnte-tangounterricht-sein.html

Kommentare

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