Genug geübt?

 

Vor einiger Zeit stellte ein Tänzer in der Facebook-Gruppe „Tango friends – What’s going on?“ eine Frage, die ich schon öfters gehört habe:

„Ich machte einer Dame ein Kompliment dazu, wie hart alle Führenden in meiner Tango-Gemeinschaft (San Francisco-Bay Area) arbeiten. Es gibt so viele Kurse, Seminare und Workshops, in denen Frauen lernen zu führen. Es ist beeindruckend! Sie fragte mich: ‚Ja, wir arbeiten sehr hart daran, gute Führende zu werden. Aber wo sind all die Männer? Sollten sie nicht auch an ihren Führungsqualitäten arbeiten? Sollten sie nicht auch Kurse zum Thema Führung besuchen? Warum sind es nur wir?' Ich hatte keine Antwort darauf. Ich dachte an Technikkurse für Männer bei unseren lokalen Lehrern und konnte mich an keinen einzigen in meinen 17 Jahren Tango hier erinnern. Warum arbeiten die Männer nicht daran, ihre Führung zu verbessern?“

Wie man an den vielen „Gefällt mir“-Angaben sieht, behagt dieser Text natürlich vor allem den Frauen.

Die männlichen Kommentare fallen deutlich skeptischer aus:

„Ich glaube, dass Männer insgesamt besser an ihrer Kraft und Kondition arbeiten als die Frauen in der Szene. Ich sehe viele Frauen, die Tango als ihre körperliche Fitness ansehen und nichts anderes.“

„Männer arbeiten hart... Aber die Damen haben nur Augen für Tangolehrer... Und sie kommen nicht mehr zu Milongas... Ein normaler Mann wird niemals das Niveau eines Tangolehrers erreichen... Das ist unmöglich...“

„Ein weiterer Beitrag, der Männer schlecht macht?“

(Der Schreiber) scheint zu versuchen, ‚Goody-Goody‘-Punkte zu sammeln. Da müssen viele Dollars für ihn drin sein.“

Im Ernst, ich weiß nicht, was das alles soll. Als Führender habe ich viele Jahre gebraucht, um zu lernen, wie man das macht. Wenn ihr mit führenden Anfängern tanzt, braucht ihr euch nicht zu wundern, wenn sie es nicht besonders gut können. Es ist schwer zu erlernen, und es braucht Jahre, um eine fließende, ausdrucksstarke und musikalische Führung zu entwickeln. Frauen können also lernen zu führen, aber das allein ist noch keine große Leistung.“

„Tatsache ist, dass die meisten Frauen, die ‚führen‘, es nicht können. Sie haben nur Arme und sind auf die Schritte fixiert, was auf Kosten jeglicher Art von tänzerischer Qualität geht.“

„Die meisten maskulinen Männer sind nicht daran interessiert, von einer Frau geführt zu werden... Auf und neben der Tanzfläche.“

„Es gibt eine Fülle von Folgenden. Die Männer haben wenig Anreiz, ihre Fähigkeiten zu verbessern. Viele Folgende akzeptieren Tänze von schlechten Führenden, anstatt den ganzen Abend herumzusitzen. Viele Frauen ziehen es vor, zu führen, anstatt zu sitzen. Sie arbeiten hart. Die meisten haben einen Sinn für Musik. Wenn der Trend anhält, wird der Tag kommen, an dem die Männer um einen Tanz konkurrieren. Hoffentlich beschließen sie an diesem Tag endlich, an ihren Fähigkeiten zu arbeiten.“

Die vorstehende Argumentation ist weit verbreitet: Männer hätten wegen des „Frauenüberschusses“ kein Problem, an Tänzerinnen zu kommen, ohne sich große Mühe mit Unterricht zu machen.

Interessant fand ich die folgende Sichtweise:

„Ich denke, viele der hier geäußerten Kritikpunkte lassen sich auf alle Geschlechter und Rollen gleichermaßen anwenden. Die überwiegende Mehrheit der Tangotänzer, selbst die Profis, erreichen ein gewisses Niveau und entscheiden dann bewusst oder unbewusst, dass die Vorteile einer weiteren Steigerung des Niveaus die Zeit und den Aufwand nicht wert sind. Es ist nichts Falsches daran, sich auf seinem derzeitigen Niveau auszuruhen. (…) Das Leben kommt einem in die Quere. Jobs wechseln, Kinder werden geboren, Verletzungen werden erlitten, Langeweile stellt sich ein, und andere Interessen entstehen... es gibt keine Regel, die besagt, dass man eine bestimmte Anzahl von Fortbildungsstunden pro Jahr braucht, um weiterhin Tango zu tanzen.“

Quelle: Tango friends - What’s going on? | Facebook (Post vom 22.8.24)

Bemühen sich beim Tango die Frauen mehr um die Verbesserung ihrer Fähigkeiten als die „übungsfaulen“ Männer? Ich glaube, das kann man so pauschal nicht sagen. Die Damen, die das Führen erlernen, gehören aber sicher zu einer Minderheit, welche ambitionierter ans Tanzen herangeht und in vielen Fällen auch begabter ist als die Kolleginnen. Das zeigt sich aber genauso, wenn sie „nur“ die folgende Rolle tanzen. Würden alle Tänzerinnen führen, ergäbe sich ein ähnliches Bild wie bei den Herren. Vielleicht würden die Frauen bei der Musikalität stärker punkten, weniger eventuell hinsichtlich Energie und Entschlossenheit.

Mir fällt aber etwas anderes auf: In der Ausgangsfrage kommt viermal der Begriff „arbeiten“ vor, zweimal in Verbindung mit „hart“. Und auch in den Kommentaren tauchen diese Wörter öfters auf.

Zu meiner eigenen tänzerischen Entwicklung kann ich nur sagen: Hätte man mir anfangs den Tango als eine Betätigung vorgestellt, bei der ich „hart arbeiten“ müsse, wäre meine Wahl wohl auf ein anderes Hobby gefallen. Ich war damals beruflich ziemlich eingespannt – und trat nahezu einmal in der Woche als Zauberkünstler auf. Zudem trainierten wir zweimal wöchentlich für die Tanzturniere. Das war Arbeit genug! Aber selbst bei den Wettbewerben sagten wir uns stets, dass es uns um den Spaß beim Tanzen ging, den wir den Zuschauern vermitteln wollten. Das hilft nämlich sehr dabei, auch schlechte Wertungen wegzustecken!

Den Tango betrachtete ich vor allem als Entspannung ohne Leistungsdruck. Richtig interessant wurde dieser Tanz für uns, als wir die vielen Improvisationsmöglichkeiten und die Vielfalt seiner Musik entdeckten. Hilfreich war es aber sicherlich, dass unser jahrelanges Standard-Training uns gewisse  technische Fähigkeiten beschert hatte.

Bemerkenswert finde ich ebenfalls, dass bei solchen Diskussionen gerne Begriffe wie „Niveau“ bemüht werden. Selbst bei intensivem Nachdenken fällt mir nicht ein, mir jemals die Frage gestellt zu haben, auf welchem „Level“ ich tanze – selbst in den Zeiten, als ich solche Einschätzungen auf den Nummerntäfelchen der Wertungsrichter ablesen konnte – und später erst recht nicht! Wir haben im Tango schon Hierarchien genug. Ich fürchte, wer in Kategorien wie „Leistung“ oder „Niveau“ denkt, landet früher oder später beim Preistanzen, welches es ja nun auch in unserer Szene gibt.

Ein Wahnsinn: Da rühmen wir uns des  einmaligen Improvisationstanzes Tango"  und dann gibt es Meisterschaften im Tango de Pista" mit zahlreichen Reglements wie bei den Standard-Turnieren... 

Für mich ist seit langer Zeit das entscheidende Kriterium eines Tanzes, ob meine Partnerin und ich uns wohlfühlen und Spaß an unseren gemeinsamen Aktionen haben. Expertisen von Fachleuten, die von der Seitenlinie aus Weisheiten von sich geben, sind mir egal – und ich hoffe, meinen Tänzerinnen auch.  

Aufschlussreich ist für mich, dass man zwar ständig vom „Üben“ oder gar „Arbeiten“ spricht, aber nie genauer erklärt, woran. Hauptsache, man besucht Unterricht – egal, was man da lernt. Ich ahne es leider: vorwiegend neue Schritte, vielleicht etwas Technik, so gut wie nie Musikalität. Dabei wäre die umgekehrte Reihenfolge nötig! Es gibt Kurse und Workshops in Hülle und Fülle, aber nur wenige nützliche. Meist pappt man die Partner aneinander, dass sie kaum noch Luft kriegen. Und dann sollen sie sich entspannt bewegen". Viel Spaß! Dass Tanzen ein Spiel und keine Arbeit" ist, verschweigt man.

Ich habe zwar die über 200 Kommentare zu diesem Post nicht genau gelesen – bei der flüchtigen Durchsicht fand ich jedenfalls kein einziges Mal den Begriff „Musik“. Dabei bietet sie doch die Basis dessen, wozu wir uns bewegen! Aber wenn diese einen öden Einheitsrhythmus liefert, fehlt für mich jede Herausforderung, einen Tanz wirklich zu gestalten. Da hilft es dann nichts, „hart“ am Exerzieren irgendeiner „Kopfschuss-Figur“ zu „arbeiten“! Ich habe immer wieder festgestellt, dass Paare auf den Milongas innerhalb einer Stunde besser tanzen, wenn man ihnen interessantere, komplexere Aufnahmen bietet, die man unmöglich mit „Metronom-Gestakse“ umsetzen kann. Doch solche Gelegenheiten gibt es nur selten.

Daher sage ich zur Ausgangsfrage: Was soll denn Männer dazu anregen, sich tänzerisch zu verbessern, wenn man ihnen ständig dieselbe fade Musik vorsetzt? Die Damen arbeiten nun an ihrer tänzerischen Emanzipation. Gut so! Aber ich wage vorherzusagen: Auch viele führende Frauen werden sich nicht weiter anstrengen, wenn sie merken, dass zu simplem Zeug auch simple Schritte reichen.

Seltsam, dass man Violinschülern mit der Zeit immer schwierigere Partituren vorsetzt statt ihnen zu sagen, diese seien „unspielbar“ oder reines Showgeigen“.

Das bleibt dem Tango vorbehalten!

P.S. Gestern haben wir uns mal wieder spontan im Pörnbacher Wohnzimmer getroffen, um ein wenig zu tanzen. Bei Aufnahmen wie der folgenden werde ich hellwach nehme die tänzerische Herausforderung mit Freuden an. Zum Ausprobieren:

https://www.youtube.com/watch?v=aOyauS2X2aY

Kommentare

  1. Moin Gerhard, wenn ein Kurs "Führen für Folgende" oder ähnlich heißt, dann ist der Männeranteil halt so hoch wie beim VHS-Kurs "Indischer Schleiertanz". Und etwas Gejammer über das andere Geschlecht ist doch das Salz im Tango. Davon mal abgesehen hat mindestens die Hälfte meiner Tanzpartnerinnen etwas Unterricht im Führen gehabt; wie viele das auf einer Milonga (bereits) anwenden wollen, ist eine andere Sache. Natürlich wird das Auswirkungen haben, und mit etwas Glück erleben wir diese auch noch.

    Du kannst übrigens einen FB-Beitrag auch direkt verlinken, indem Du auf sein Datum klickst bzw. den Link kopierst:
    https://www.facebook.com/groups/370490443964732/posts/1237551027258665/

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    1. Lieber Martin,
      wenn du meinen Artikel nochmal genau nachliest, wirst du feststellen, dass der Frager meint: Auch an den Kursen "Führen für Führende" bestehe kaum Interesse. Weil die Männer wohl glauben, es schon zu können.
      Beste Grüße
      Gerhard
      P.S. Die Sache mit dem Verlinken ist mir schon klar - habe ich in vielen Artikeln so gemacht. Hier gibt es aber gewisse "technische Umstände", welche es schwierig gestalten.

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    2. Also ich habe anfangs in einem ganz normalen Tangokurs das Führen gelernt. Beim "Führen für Folgende" wird auf das Folgen nicht näher eingangen, dass können die (Damen) ja schon. Aber was bitte soll "Führen für Führende" konkret sein, und wer führt da wen?

      Was Deinen Musikgeschmack angeht - die jazzig-schrägen Töne der alten Männer vom Sexteto Milonguero scheinen mir mehr was für Ältere zu sein. Sowas kann und will ich nicht bringen, mein Zielpublikum liegt im Mittel "erst" um die Fünfzig.
      Ich denke ich werde heute vier Tandas von Domingo Federico, Florindo Sassone, Fulvio Salamanca und Osvaldo Manzi spielen. Und vier Tandas von Cuarteto SolTango, Solo Tango Orquesta, El Cachivache, Orquesta Silbando, Orquesta Tipica Misteriosa, Sexteto Cristal oder Orquesta Típica Sans Souci auswählen.
      Das funktioniert nach meiner Erfahrung recht gut, auch auf einer strikt traditionellen Milonga.

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    3. Lieber Martin,
      was „Führen für Führende“ konkret bedeutet, müssten wir den Autor des Posts fragen. Ich nehme an, dass Führende dort lernen sollen, wie man mit Folgenden tanzt.
      Dein Satz „die jazzig-schrägen Töne der alten Männer vom Sexteto Milonguero scheinen mir mehr was für Ältere zu sein“ hat Chancen, in meinem „Wort zum Samstag“ veröffentlicht zu werden. Schon deshalb, weil in dem Video nicht das Sexteto Milonguero spielt, sondern das Sexteto Mayor. Ich schätze, die Aufnahme stammt aus den 1970er Jahren. Das Sexteto Milonguero wurde erst 2006 gegründet, da war der Bandoneon-Spieler José Libertella schon zwei Jahre tot.
      Ich würde mich freuen, wenn auch traditionelle DJs sich ein wenig mit dieser Phase der Musikgeschichte des Tango befassten…
      Aber immerhin legst du etliche moderne Ensembles auf. Gut so – da ist ja dann keine Tanda verschwendet!
      Gruß
      Gerhard

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    4. Nur zu, ich bin Samstag auf einem Encuentro, also quasi in Sicherheit.

      Aber ich sehe mit Schrecken, dass ich mal eine Tanda mit dem Sexteto Mayor (laut Wikipedia das "erfolgreichste Tangoorchester der Welt") vorbereitet habe ... für den Fall dass ich zu "Libertango" genötigt werde. Mit besserer Tontechnik klingen sie auch besser. Aber der Ernstfall ist nie eingetreten, man muss auch mal Glück haben im Leben!

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    5. Ja, „Sicherheit“ ist im heutigen Tango ein wichtiges Wort!
      Und das Sexteto Mayor sollte man kennen – auch ohne „Wikipedia“ bemühen zu müssen. Die haben die Musik zu vielen der Tangoshows geliefert (richtig: auch Piazzolla), die in den 1980er Jahren dafür gesorgt haben, dass man sich weltweit überhaupt wieder mit Tango beschäftigte. Erfolgreich waren sie sicher – und vor allem die besten!

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