Auf der Suche nach Leidenschaft

Ich werde nun nicht verraten, woher meine jüngsten Eindrücke zum Thema stammen. Erstens will ich keine persönlichen Konflikte, und zweitens sind diese Impressionen austauschbar.

Ganz offen aber bekenne ich: Mein Besuch von Milongas geht inzwischen nicht mehr so sehr auf meine Freude am Tanzen zurück, sondern auf den vernünftigen Grund, mich auch im Alter gelegentlich zu bewegen. Und da zieht mich die Aktion zur Musik immer noch mehr an als irgendwelche Spaziergänge.

Wenn ich dann nach unserer Ankunft beim Event am Rand des Parketts sitze, muss ich mich dennoch sehr zusammennehmen, um nicht doch lieber zu einem Rundgang im Freien zu starten. Wieso?

Daran, dass ich in vielen Fällen nicht gerade tänzerische Qualität zu sehen bekomme, habe ich mich längst gewöhnt. Okay, ich tanze auch gerne mal mit Anfängerinnen, kein Problem. Allerdings habe ich das Gefühl, dass der Anteil von Tanzenden dieser Kategorie immer mehr zunimmt, selbst wenn sie schon jahrelang beim Tango sind. Was mich aber besonders bedrückt: Die „Leidenschaft“, mit der unser Tanz ja gerne beworben wird, sehe ich fast überhaupt nicht mehr.

Stattdessen beobachte ich Männer, die mit lustlosen Einheitsschritten Frauen herumschieben, die ängstlich darauf bedacht sind, ja nichts zu unternehmen, was den Partner aus seiner Lethargie reißen könnte. Irgendwas dreht sich da ohne Sinn und Gefühl im Kreis.

Nun gibt es eh keine geborenen Supertänzer, und manche kriegen es auch nach vielen Jahren nur sehr eingeschränkt hin. Unverzeihlich finde ich es aber, dass man nicht einmal die Lust erkennt, sich mit einer Person des anderen Geschlechts in ziemlicher Nähe auszutauschen. Da sehe ich bei reinen Frauen- oder Männerpaaren oft mehr davon!

Echt, meine Herren: Wenn es euch keine Freude macht, mit einer Dame zu tanzen, dann lasst es doch! Schließlich gibt es viele Alternativen, beispielsweise Briefmarkensammeln…

Und das Elend hängt nicht mal von tänzerischer Ausbildung oder Erfahrung ab. Da geht oft auf Dorftanzböden mehr der Punk ab, obwohl die meisten jungen Kerle es auch nicht wirklich können. Dennoch werfen sie ihre Mädels umher, dass es eine Freude ist – und den jungen Damen gefällt es, weil’s ihnen Spaß macht!

Von choreografischen Fähigkeiten hängt das wenig ab – man kann auch mit simplen Schritten energievoll und empathisch tanzen. Und sogar die Musik interpretieren.

Hintergrund ist wohl, dass man im Tangounterricht vor allem auf „Korrektheit“ Wert legt – also Vorsicht, man kann viel falsch machen! Damit erstickt man zuverlässig jede Initiative, mal zu improvisieren, vielleicht gar die Sau rauszulassen. Das einzige Gefühl, das man so hinbekommt, ist Angst.

Die meist aufgelegte Musik passt dazu: Das (natürlich historische) Orchester liefert den üblichen, schleppend-monotonen Rhythmus, der perfekt zum Sinnnlos-Trab animiert. Dazu knödelt ein depressiver Tenor Verse in einer Sprache, welche die meisten nicht verstehen. Es wäre ein Wunder, wenn dabei etwas anderes herauskäme als das das landauf, landab zu Sehende.

Die Wirkung ist ebenso sinnlich wie eine Filmszene, bei der ein Paar aufs Bett sinkt, die Kamera auf die wehenden Gardinen schwenkt und die Stimme der Dame aus dem Off erschallt: „Schatz, würdest du bitte morgen für mich einkaufen gehen?“ Glücklicherweise erlebt man das im Kino kaum  im Tango aber jederzeit!   

Daher, Männer: Stellt euch doch bitte die Sinnfrage, warum ihr eigentlich tanzt – und fangt erst dann damit an! Die meisten Frauen wären nämlich durchaus bereit, sich ein wenig heftiger und inniger zu bewegen.

Dazu eine meiner langjährigen Erfahrungen: Obwohl ich nicht darauf scharf bin, eine Tanzpartnerin für dreieinhalb Minuten an mich zu pappen, gibt es Situationen, in denen ich schon etwas kräftiger zufasse – beispielsweise bei Milongas oder wenn ich einen plötzlichen Richtungswechsel oder Stopp signalisiere. Gelegentlich kam mir dabei die Befürchtung, es etwas übertrieben zu haben und mir gewisse Aversionen zuzuziehen. Doch weit gefehlt: Die meisten Tänzerinnen fanden es lustig und wachten dabei erst so richtig auf. Also keine Angst, ihr Männer: Frauen sind nicht aus Zucker und durchaus zur Leidenschaft fähig. Sie warten halt – oft vergeblich – auf eure! Und sie können sehr gut unterscheiden, ob ein Zugriff tänzerisch oder aus anderen Gründen erfolgt. Also packt euren Esoterik-Tango ein! Und wenn mir das mit 73 Jahren noch ansatzweise gelingt, sollte es doch wahrlich nicht so schwer sein.

 Zur Anregung habe ich heute einen klassischen Tango gewählt, der mir sehr gut gefällt. „Arrabal amargo“ („Bittere Vorstadt“) hat 1935 Carlos Gardel komponiert – zu sehen ist er in dem Film „Tango Bar“.

Der Text von Alfredo Le Pera beschreibt das Leben in der Vorstadt, das einem „wie ein Fluch“ auferlegt sei. Und dennoch wird es von der Liebe verschönt:

Rinconcito arrabalero,

con el toldo de estrellas

de tu patio que quiero.

Todo, todo se ilumina,

cuando ella vuelve a verte

y mis viejas madreselvas

están en flor para quererte.

Como una nube que pasa

mis ensueños se van,

se van, no vuelven más.

 

Vorstadteckchen,

mit dem Baldachin der Sterne

deines Hofes, den ich liebe.

Alles, alles leuchtet auf

wenn sie zurückkommt, um dich zu sehen

Und meine alten Geißblattpflanzen

blühen, um dich zu lieben.

Wie eine vorbeiziehende Wolke

vergehen meine Träumereien,

sie gehen weg, sie kommen nicht mehr zurück.

 

No digas a nadie

que ya no me quieres.

Si a mí me preguntan

diré que vendrás.

Y así cuando vuelvas mi alma, te juro,

los ojos extraños

no se asombrarán.

Verás cómo todo

te esperaba ansioso:

mi blanca casita

y el viejo rosal...

Y cómo de nuevo

alivia sus penas

vestido de fiesta

mi viejo arrabal.

 

Sage niemandem

dass du mich nicht mehr liebst.

Wenn sie mich fragen

werde ich sagen, dass du kommen wirst.

Und wenn du dann zurückkommst

meine Seele, ich schwöre es dir,

werden fremde Augen

sich nicht wundern.

Du wirst sehen, wie alles

sehnlich auf dich gewartet hat:

mein kleines weißes Haus

und der alte Rosenstrauch...

Und wie von Neuem

lindert ihren Kummer

gekleidet für ein Fest

meine alte Vorstadt.

Im folgenden Ausschnitt legt der Ausnahmesänger sogar ein kleines Tänzchen hin – und ich finde, er mimt die Emotionen ganz schön – obwohl Frauen… aber lassen wir das!

Auf jeden Fall erleben wir, mit welcher Leidenschaft Tangos gesungen und getanzt werden können.

Ich rate, zu dem Stück mal den Teppich wegzurollen und sich in diese Gefühle tänzerisch hineinzubegeben. Ganz neue Erfahrungen erwarten Sie!       

https://www.youtube.com/watch?v=hVVFzThyzX4

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