Soziale Pirouette zurück ins 19. Jahrhundert?

 

Durch Zufall stieß ich gestern auf einen alten Artikel von mir, in dem ich einen Text von Tobias Landwehr auf „Zeit Online“ verlinkte. Der Autor beschäftigt sich darin mit der tradierten Rollenverteilung im Paartanz („eine soziale Pirouette zurück ins 19. Jahrhundert“). Ich kann die Lektüre sehr empfehlen:

https://www.zeit.de/sport/2019-08/gleichberechtigung-tanzen-maenner-frauen-fuehrung

Was mir erst jetzt auffiel: Es gibt dazu 490 Kommentare!

Was mich jedoch nicht überrascht: Soweit ersichtlich sind es vor allem Männer, welchen drohende Veränderungen nicht wirklich gefallen. In guter alter Macho-Tradition legt man sich dazu gern mit der Person des Autors an (was mir irgendwie vertraut erscheint):

„Ach Tobias. Such dir ein anderes Hobby, als alles in der Gesellschaft auf angebliche Ungerechtigkeit hin zu überprüfen.“

Hobby? Dr. Landwehr arbeitete seit 2016 immerhin nicht nur für die „Zeit“, sondern auch für die SZ, den SPIEGEL, Spektrum, ZDF und FAZ.

https://www.zeit.de/autoren/L/Tobias_Landwehr/index

„Bloß, weil man von etwas überhaupt keine Ahnung hat, muss man nicht gleich drüber schreiben.“

„Ein Nichttänzer schreibt übers Tanzen und demonstriert den erwartbaren Mangel an Takt und Musikalität.“

„Der Text ist ganz offensichtlich von jemandem geschrieben, der vom Paartanzen keine Ahnung hat, wie ja auch am Anfang direkt zugegeben wird.“

„Der Autor versucht, mit einer destruktiven ‚Verkopptheit,‘ gepaart mit Unkenntnis, einen Beitrag zur Emanzipation zu liefern und scheitert kläglich.“

„Klar, Journalisten stehen unter Druck. Sie müssen originell sein. Wenn neun ‚muh‘ sagen, sagt der Zehnte ‚mäh‘. Aber muss das wirklich so platt sein wie hier?“

„Der Autor hat offensichtlich nicht den Zugang zum Tanzen. Aber offensichtlich prädestiniert es ihn, über Tanzen, genauer gesagt den Paar-Tanz, zu schreiben.“

„Vorschlag an den Herrn Autor: Schreiben Sie über etwas, das Sie verstehen.“

Glücklicherweise legt keiner dieser Kommentatoren dar, über welches tänzerische Fachwissen er selber verfügt. Und warum darf ein Journalist nicht mal einen Blick von außen auf die Tanzwelt werfen?

Ein gefundenes Fressen scheint der Artikel auch für Gender-Gegner zu sein:

„Die Genderideologie nervt mich immer mehr. Das ist weder Wissenschaft noch wichtig für ein Zusammenleben, das geht mit Unwissenheit manchmal sogar um einiges besser, als ständig pathologischer Beobachtung zu unterstehen.“

„Warum muss man hier unbedingt Genderstuss predigen?!“

„Dieser Artikel ist ein starkes Argument, das Gendergedöns nicht allzu ernst zu nehmen.“

„Gibt es eigentlich wichtigere Probleme als den derzeit herrschenden Genderwahn?“

„Man kann nicht ‚Emanzipation‘ gegen den Willen der Evolutionsbiologie von oben anordnen, nur weil man es intellektuell vernünftig findet.“

Doch auch Frauen wünschen sich durchaus einen starken Leader:

„Als Frau will ich beim klassischen Paartanz von einem fähigen Mann geführt werden.“

Natürlich weist man auch auf die körperlichen Unterschiede der Geschlechter hin:

„Die Tanzpartnerin ist in der Regel aufgrund ihrer Physionomie beweglicher. Deshalb übernimmt sie oft oder bei bestimmten Sequenzen denn beweglicheren Teil. Der Mann übernimmt in der Regel den mehr statischen Part.“

Na, das kennen wir doch vom Tango!

„Männer sind typischerweise auch größer als Frauen. Allein das ist doch skandalös und gehört verboten.“

„Werden dann künftig im Rock'n'Roll auch die Frauen die Männer durch die Luft wirbeln?“

„Es ist schon lange mein Wunsch mich bei aufwendigen Wurf- und Hebefiguren durch die Luft wirbeln zu lassen. Soll meine Frau mal zeigen was sie kann...“

„Ich tausche gerne die Rolle. Nur leider sind meine Tanzpartnerinnen immer zu klein und können dann nichts sehen...“

Immer noch sehen gerade Männer den Paartanz sozusagen als „Sex ohne Bett“ (oder so):

„Armes Deutschland, über was diskutieren wir! Vielleicht schaffen wir es, unseren Nachwuchs so zu manipulieren, dass nur noch Weibmänner mit völlig gleichem Körper zur Welt kommen werden? Dann würden doch wirklich alle gleich sein, und wir würden endlich das 19-te Jahrhundert überwunden haben. Kein Mann würde mehr eine Frau anschauen wollen und ebenso keine Frau mehr einen Mann!“

„Bitte entschuldigt meine Worte aber – wir sind am Verblöden! Geht mal nach Kuba! Da wird getanzt und das Spiel der Liebe gespielt. Frau und Mann im Spiel der Liebe. Tanzen hat mit Verehrung, mit Triezen, mit Erotik, Hingabe, Leidenschaft, Humor – mit dem Spiel der Liebe zu tun. Das ist halt nun mal so – der Mann wird ja auch nicht durch die Frau begattet.“

„Denn Männer lieben es einfach, mal entspannt zu sein und die Politik an der Garderobe abzugeben. Spätestens im Schlafzimmer ist sie sowieso wieder zur Stelle, wenn es darum geht, die juristischen Details auszuhandeln. (Ist ein Ja ein Ja?) Armes Deutschland.“

„Tanzt doch einfach alleine, wenn Ihr immer nur die einfachste Lösung sucht. Oder kommt als Nächstes Sex in eure Alles-Gleichmach-Presse, und Männer sind dann mal wieder schuld?“

Und zu guter Letzt:

„Ich hab auch nach 7 Jahren aktivem Tanzen (Tango Argentino) noch keine Frau getroffen, die meinte: ‚Das ist so chauvinistisch und rückwärtsgewandt, ich will auch mal führen und die Männersachen machen!‘"

Tja, wenn man halt nur eine Sorte von Milongas besucht…

Um nicht missverstanden zu werden: Es gibt sicherlich gute Gründe für die klassische Rollenverteilung im Paartanz und ebenso für den Rollenwechsel. Mich beeindruckt es aber, wie bei manchen Männern gleich die Sicherungen durchbrennen, wenn man an ihrer „führenden Position“ kratzt – bei welchem Thema auch immer.

Und bei den Herren ist Tanzen schon ziemlich stark mit Sex konnotiert, während die Damen eher das Spielerisch-Musikalische sehen.

Das männliche Denken kreist sehr um Rangordnung und Dominanz – und daher ist die Furcht vor Kontrollverlust riesig.

Das erinnert mich an einen Artikel des Kollegen Jochen Lüders, der mich geradezu mit Schaum vorm Mund ob meiner „folgenarmen Führungslosigkeit“ attackierte:

„Tja, wenn der Mann keine Ahnung habe, was er denn eigentlich tanzen möchte, ist es vielleicht wirklich besser, einfach stehen zu bleiben und die Frau machen zu lassen. Das Ganze dann allerdings ein „ständiges Hin und Her von Impulsen“ und „gemeinsames Gestalten des Tanzes“ zu nennen ist schon kühn. Der eine macht (fast) nichts und der / die andere macht irgendwas, und das soll dann Gemeinsamkeit, Harmonie und Verbindung im Paar schaffen?“

https://jochenlueders.de/?p=15907

Ich meine, diese Panik offenbart in Wirklichkeit Schwäche. Wenn ich mir selber meiner Sache sicher bin, muss nicht ständig Angst vor dem Verlust meiner Souveränität haben.

Und zudem ist Tanzen für mich ein Spiel, das Spaß bringen soll. Wenn dabei mal etwas schiefgeht, kann man darüber lachen statt den Weltuntergang zu beschwören.

Ich wundere mich schon lange nicht mehr darüber, mit welcher Verbissenheit gerade im Tango über das „richtige Tanzen“ und benachbarte Dörfer gestritten wird. Ich fürchte, in Wahrheit geht es dabei gerade Männern um tieferliegende Faktoren wie Macht, Sex und Erfolg.

Was ich immer wieder vorschlage, ist ein Mittelweg zwischen der traditionellen Rollenverteilung und dem reinen Rollenwechsel. Oberflächlich betrachtet „führe“ ich, versuche dabei aber, meiner Partnerin so viele Freiräume wie möglich zu eröffnen. Ob und wie sie diese ausnützt, ist ihre Sache. Ich gestehe aber, dass mich Tänzerinnen mehr reizen, die möglichst viele eigene Ideen einbringen. Dass man dabei ständig aufeinander achten und Signale des anderen erkennen sollte, gehört zu den vielen Antagonismen des Tango.

Aber gerade deshalb ist er doch so spannend, oder?

Illustration: www.tangofish.de

Kommentare

  1. Klingt ja so, als hätten auf den nicht-tanzenden Autor ebenfalls nicht-tanzende Kommentatoren geantwortet. Aber letztendlich leben wir in einen freien Land, zumindest was den Freizeitsektor angeht - wem es nicht gefällt der hat das Recht fernzubleiben.
    Also sofern auf einer real existierenden Tanzveranstaltung mehr Frauen als Männer zugegen sind, ist diese augenscheinlich für Frauen attaktiver als für Männer. Und sei es im Stile des 19. Jahrhunderts.

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    1. Ich empfehle ein Quellenstudium: Eine Reihe von Kommentatoren bezieht sich auf eigene tänzerische Praxis.
      Den Rest habe ich leider nicht verstanden.

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