Tango: Standard oder Stand-Art?



In der Tango argentino-Szene begegne ich immer wieder einem ziemlichen Naserümpfen, wenn die Rede auf „Standardtänzer“ kommt (hier als Sammelbegriff für die Standard- und Lateinamerikanischen Tänze verwendet). Ein Zitat habe ich schon in meinem ersten Tangobuch veröffentlicht:

„Schwertun mit einem Konzept der Musikinterpretation werden sich vor allem solche, die darauf fixiert sind, ihre eingelernten Schrittfolgen abzuarbeiten, wie es beim Standard geschieht, wo Tanz als Sport betrieben wird, man sich entsprechend dynamisch bewegt, und zwar nach Mustern, die dem Tango wegen des zum Führen notwendigen inneren Dialogs nach meinem Verständnis fremd sind.“ (Tangodanza, 4/2004, S. 82)

Wenn man – so wie ich – beide Bereiche seit Jahrzehnten kennt, fallen einem ganz andere Unterschiede zwischen diesen Disziplinen auf. Vor Kurzem durften wir uns aus privaten Gründen nach langer Zeit wieder einmal mit dem Slowfox (dem anspruchsvollsten aller Standardtänze) beschäftigen. Zur Gedächtnisauffrischung schauten wir uns ein wenig auf „YouTube“ um und stießen auf das Video einer Endrunde bei den British Open in Blackpool (für die reinen Tangoleute: seit 1920 der weltweit größte Tanzsportwettbewerb mit fast 3000 Teilnehmern aus zirka 60 Ländern; ein Sieg dort ist mit der olympischen Goldmedaille vergleichbar). Was ich schon mal amüsant finde: Wenn man da nun Rückwärtsschritte der Männer verbieten würde…
 
 
Ein Vergleich mit dem technischen Niveau im argentinischen Tango ist natürlich nur begrenzt möglich – trotzdem hier die Endrunde der „Tango-Weltmeisterschaft 2016“ im Salonstil:


Bei aller Schwierigkeit im Beurteilen der Unterschiede: Was die „Tango-Weltmeister“ dabei zeigen, ist – bei vergleichbarem Talent – maximal in einem Zehntel der Übungszeit hinzubekommen. Um einen alten Musikerwitz zu bemühen:
„Was ist der Unterschied zwischen Vladimir Horowitz und Richard Clayderman? Wenn man Horowitz hört, denkt man sich: ‚Das könnte ich nie‘ – bei Clayderman hingegen fasst man den Entschluss: ‚Morgen kauf ich mir auch ein Klavier!‘“

Und weil wir schon bei solchen Späßen sind:

Ich glaube, hierzu braucht man gar kein Klavier – aber da gibt es doch diese elektronischen Heimorgeln, auf denen man so viel vorprogrammieren kann…

Ohne Zweifel: Gerade beim derzeit um sich greifenden „Caminar abrazado“, also den „Umarmten Gegangungen“, werden den Tangoschülern für viel Geld und mit mystischer Verzückung simpelste Bewegungselemente verkauft, für die jeder durchschnittliche Tanztrainer nur ein müdes Lächeln übrig hätte. Als neuer Standard wird hier die „Stand-Art“, also die „Kunst des Stehens“ propagiert!

Ich kenne natürlich das Gegenargument: Standard sei Sport, Argentino hingegen im kulturell-künstlerischen Sektor zu verorten. So argumentierte 2006 auch eine Tangolehrerin, die vor dem Bundessozialgericht wegen ihrer Nichtzulassung zur Künstlersozialversicherung klagte und verlor. Frei von jeder Tangoverzückung urteilten die Juristen: „Daraus folgt, dass der Argentinische Tango zum Bereich des Sports (…) zählt (…) Er unterscheidet sich insoweit nicht von vielen anderen Tanzdisziplinen, bei denen es Turniere und Meisterschaften gibt (…) Auf den Umfang der Kreativität und des Gestaltungsspielraums kommt es beim Tango Argentino ebenso wenig an wie auf die Frage, ob die Einhaltung bestimmter Schrittfolgen vorgeschrieben ist oder die freie Improvisation des Tanzpaares im Vordergrund steht. Denn Kreativität und ästhetische Gestaltung ist bei allen Tanzdisziplinen möglich und bei Wettbewerben auch geboten“ (BSG, Urteil vom 7. 12. 2006 - B 3 KR 11/06 R)

Genau mit dieser „freien Improvisation“ hatte die Klägerin nämlich den „künstlerischen Anspruch“ des Tango argentino zu begründen versucht. Lustigerweise tun die meisten Tangolehrer jedoch alles, um exakt dieses Argument zu widerlegen: Sie verkaufen Schritte und Figuren wie in jeder Tanzstunde, besserenfalls noch Tanztechnik – Anregungen zur Kreativität hingegen sind zumindest äußerst dünn gesät. Ausgerechnet der von den Traditionalisten so geschmähte Bühnentanz dagegen gehört rechtlich in den Bereich Kunst, was dagegen auf den Tanzparketts gemeinhin abläuft, ist keine – und ich fürchte, da haben sogar die Juristen mal Recht…

Zugunsten der Standard-Tanzschulen muss man berücksichtigen, dass diese sich immerhin nicht auf eine historische Musikauswahl beschränken und daher zu Langsamem Walzer, Foxtrott oder Tango nicht (oder nur selten) Orchester der „UFA-EdO“ wie Dajos Béla, Barnabás von Géczy und Juan Llossas auflegen (eigentlich schade). Da darf man schon mal zu einem Popsong Rumba oder Cha-Cha-Cha tanzen, ohne dass ein kulturelles Desaster droht!

Ein anderes bisheriges Privileg des Tanzsports, die Turniere, wird derzeit von den Veranstaltern gestürmt. Während man früher auf sportliche Tango-Wettbewerbe verächtlich herabsah, häufen sich derzeit Einladungen zu „Weltmeister-Milongas“:
(Edit: Schon wieder mal ein Link verschwunden - tja...)
Klar: Nicht nur im Fußball drängen die Fans auf die Tribüne, wenn es um Meisterschaften und Pokale geht!

Mittels der ausufernden Zahl sogenannter Códigos würde man das Preistanzen schon in den Griff bekommen. In welche Richtung man da unterwegs ist, sollte man sich allerdings einmal in Ruhe zu Gemüte führen:

Vielleicht ist es in Tangokreisen unbekannt, dass in den einzelnen Tanzsportklassen Schrittbegrenzungen existieren, d.h. es gibt nicht nur standardisierte, sondern auch „verbotene Figuren“, welche man dann erst in einer höheren Klasse tanzen darf. Infos dazu hier:
Aber da ist der traditionelle argentinische Tango ja um Anschluss bemüht: Siehe die Diskussionen um Ganchos, Boleos und die „Ordnung“ in der Ronda!

Auf dem Forum www.tanzmitmir.net schrieb jüngst eine Kommentatorin: „Eine bekannte Tangoexpertin hatte mir ausserdem erzählt, dass hohe Absätze nun einmal Dinge sind, die - gemäss Codigos- nur den besten Tänzerinnen zustehen.“
Aha, jetzt geht’s auch schon an die Klamotten! Ich habe mir dann erlaubt, aus der obigen Tanzsport-Verordnung einige gruselige Ausschnitte (!) zu zitieren:

„1. Athletinnen dürfen keine kurzen Hosen, Hosenröcke oder Trikots alleine tragen, sondern nur in Kombination mit einem Rock. Sie müssen einen Rock, ein Kleid oder lange Hosen tragen. Die Kleidung muss die charakteristische Form jeder Disziplin (Standard und Latein) aufweisen. In Standard muss das Kleid der Dame einen langen Rock aufweisen, der zumindest beide Knie bedeckt; falls der Rock einen Schlitz aufweist, darf dieser maximal bis zum Knie gehen. In Latein muss der Rock gefertigt sein aus Stoff, Fransen,Federn, Perlen oder anderen passenden Materialien, darf geschlitzt sein oder offen an beiden Seiten unter der Voraussetzung, dass der Rock im Stehen den Intimbereich (das Höschen) vollständig bedeckt.

Für Damen:
- Tangas sind nicht erlaubt (NA)
- Höschen in Hautfarbe sind nicht erlaubt (NA)
- Die Brust muss bedeckt sein
- Der Abstand zwischen den BH-Körbchen darf 5 cm nicht überschreiten
(…)
Hüftlinie (HL) / Hip Line
– oberer Abschluss des Höschens (wie tief) = gerade horizontale Linie, bei der die Gesäßmuskulatur (intergluteal line) nicht sichtbar sein darf
Höschenlinie (PL) / Panty Line
– unterer Abschluss des Höschens (wie hoch)
- Rückseite – das ganze Gesäß muss bedeckt sein.
- Vorderseite – folgt der Linie zwischen gebeugtem Bein und Körper“

Ich beschränke mich da vorsichtshalber auf den Kommentar: Das mit den Códigos geht in die Hose…

Fazit: Wo immer sich der Tango argentino früher einmal in Punkto Kreativität, Musikalität und Improvisation von den anderen Gesellschaftstänzen unterschied, ist man derzeit heftig dabei, solche Vorzüge aufzugeben zugunsten einer neuen „Standardisierung“ dieses Tanzes. Eine ganze Branche, angeführt von selbsternannten Experten, kümmert sich um die Verschulung durch ein riesiges Angebot von Kursen, Workshops, Events und Zubehörhandel. Von einem hoheitsvollen Blick auf die „Standardtänzer“ rate ich ab: Längst hat der Tango argentino deren Schwächen kopiert, ohne an ihre Stärke heranzukommen: Im Schnitt können die auf dem Parkett mehr – und zwar in zehn verschiedenen Tänzen!

P.S. Preisfrage: Auf welche Tangoform bezieht sich der Autor Dieter Reichardt in seinem Buchklassiker „Tango – Verweigerung und Trauer“ bei folgender Feststellung? „Eckiges Geschiebe, bei manchen Pärchen garniert mit possierlichen Kreuz-, Knick- und Wiegeschritten, läppische Schrammelmelodien mit regelmäßig gestampfter Synkope und höchst aberwitzige Texte, das etwa ist der Tango, wie er hierzulande in Erscheinung tritt …“
Auflösung: Im Erscheinungsjahr des Buches (1984) war es noch der Standardtango…
    

Kommentare

  1. Auf dem Forum „tanzmitmir“ läuft gerade eine interessante Diskussion: Ausgangspunkt war, dass ich dort einen Hinweis auf diesen Beitrag gepostet hatte. Nachdem sich zunächst eine ziemlich fundierte, sachliche Debatte entwickelte, griff mich dann ein Lunatic, der sich „NocheroSoy“ (span. „Nachtwächter“) nennt, frontal an und nutzt seither jede Gelegenheit, das Thema von der Sache weg auf meine Person und deren vermutliche Defizite zu bringen.

    Dabei hat er eine skandalöse Entdeckung gemacht: Ich schreibe doch glatt, weil ich gelesen werden will! Grund genug, mich für egozentrisch zu halten und meine Arbeit als Autor in BILD-Zeitungsnähe zu verorten, weil es mir ja wohl nicht um Inhalte ginge. Da er von meinem gelernten Beruf gehört hat, plündert er zudem rücksichtslos die gesamte Lehrer-Vorurteils-Schmäh-Kiste. Letztlich gleicht seine „Argumentation“ dem, was ich vor Jahren auf Cassiels Blog erleben durfte: Ich sei arrogant, selbstbeweihräuchernd, egozentrisch…

    Wie soll man sich bei solchen Anfällen, wo das Geblöke nur noch durch den Schaum vor dem Mund gedämpft wird, verhalten? Dagegenhalten oder ignorieren? Interessanterweise gelingt es diesem Zeitgenossen auf dem obigen Forum jedoch nicht, eine Mittäterschaft für seinen geistigen Amoklauf zu finden – im Gegenteil: Die Anmerkungen anderer Kommentatoren sind eher gegen ihn gerichtet. Das war einst bei Cassiel oder jüngst bei Theresa Faus anders, wo man das „Kreuzige ihn!“ sofort im Chor bestätigte. So verschieden kann es in sozialen Netzwerken zugehen!

    P.S. Da ich es hier mit einem Pseudonym und nicht einer natürlichen Person zu tun habe, die als Solche nicht „beleidigungsfähig“ ist, habe ich meine Worte bewusst etwas stärker gewählt als auf meinem Blog sonst üblich.

    Näheres hier:
    http://www.tanzmitmir.net/tanzpartner-boerse/viewtopic.php?t=16983

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  2. "Bei aller Schwierigkeit im Beurteilen der Unterschiede: Was die „Tango-Weltmeister“ dabei zeigen, ist – bei vergleichbarem Talent – maximal in einem Zehntel der Übungszeit hinzubekommen"
    Hallo Gerhard,
    das ist doch die Crux, daß ein unspektakulär getanzter Tango viel leichter aussieht als er tatsächlich ist.
    Das dürfte auch der Grund sein, warum sich gerade Bewegungslegasthenieker hier magisch angezogen fühlen.
    Was dabei rauskommt können wir ja auf den Milongas zur Genüge betrachten.
    Das sich hier auch "Spezialisten" entwickeln die das Nichttanzen (und erst recht nicht Tango) zu Ihrem Markenzeichen machen ist klar. :-)
    Ebenso der rege Zulauf derer, die das auch wollen.
    Grüße, Mäx

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    1. Ich weiß, dass Vergleiche schwierig sind, bleibe jedoch dabei: Was Spitzenpaare im Standard oder Latein technisch können, würde ein „Weltmeisterschaftspaar“ des Tango nicht hinbekommen. Umgekehrt schon.

      Ein unspektakulär getanzter Slowfox sieht auch leichter aus als er ist…

      Dennoch stimmt es natürlich: Für Nichttänzer ist der Tango argentino sehr attraktiv!

      Vielen Dank und beste Grüße!

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