Wege aus der Klammer-Umarmung
Was Ihnen Ihr Tangolehrer nicht erzählt… 27
Vor einigen Jahren verließ ich gerade mit meiner Begleiterin eine Milonga – wir saßen in der Garderobe und wechselten die Schuhe. Eine ältere Tänzerin war auch am Gehen. Ich hatte sie während des Nachmittags länger beobachtet, wie sie mit ihrem Partner, der sie heftig belehrte, irgendwelche komischen Schrittkombinationen probierte – mit mäßigem Erfolg.
Schließlich sprach sie uns an: Unser Tanzen habe ihr sehr gefallen – seit wann wir beim Tango seien? Bei unserer Antwort (seit 1999) verdrehte sie die Augen und fragte dann: „Wie lange habt ihr denn gebraucht, bis es euch Spaß machte?“
Jetzt war es an uns, ratlos zu gucken Ja, wie – Spaß? Natürlich von der ersten Minute an, sonst wären wir kaum bei diesem Tanz geblieben!
Inzwischen scheint Tango etwas geworden zu sein, bei dem man vor allem viel falsch machen kann – und irgendwelche seltsamen Regeln zu befolgen hat. Unter der Führung der gestrengen Tangolehrkraft muss man sich offenbar erstmal durch ein Fegefeuer quälen, bevor man dereinst, wenn überhaupt, die süßen Früchte des Tanzes von La Plata genießen darf…
Hallo? Ich dachte, Tango sei in erster Linie ein Freizeitvergnügen!
An all das erinnerte ich mich, als wir gestern eine neue Runde unserer Wohnzimmer-Prácticas eröffneten.
Bekanntlich halte ich mich – auch nach 55 Jahren auf dem Parkett und bald 24 Jahren Tango – nicht für einen Tanzlehrer, was meine charakterliche Haltlosigkeit schon einmal bestätigt. Bei uns darf daher jeder seine Ideen einbringen oder Fragen stellen. Was wir dann üben, ergibt sich oft spontan.
Natürlich bringe ich auch einige Einfälle mit. Gestern schlug
ich beispielsweise vor, die Auflösung der Tanzhaltung zu probieren. Natürlich ein Sakrileg, denn die „enge Umarmung" hat ja beim heutigen Tango fast religiösen Charakter!
Tatsächlich halte ich es aber für den Anfang vom Ende, in Tangokursen zwei Beginner (im ungünstigsten Fall ein Ehepaar) vermittelst Aneinanderpappen mit eingelernten Schrittfolgen (als schlimmste Möglichkeit die berüchtigte „Achterbasse“) in Bewegung zu setzen. Was außer heftigem Gekrampfe soll dabei eigentlich herauskommen?
Klar, einige Grundbewegungen des Tango sollte man dabei schon drauf haben – vor allem das Gehen (Caminar) und Cunitas (Wiegeschritte), vielleicht auch schon einen Ocho oder eine kleine Drehung (aber sicher kein „Kreuz“). Das reicht aber fürs erste halbe Jahr dicke! Was bringt es denn, Leute mit Tanzfiguren vollzuballern, die sich noch kaum eigenständig halbwegs elegant und rhythmisch bewegen können?
Weiterhin hindert diese Strategie die Schülerinnen und Schüler daran, selber tanzen zu lernen – auf ihren zwei Beinen und nicht auf allen Vieren als zusammengespanntes „Trampeltier“. Jeder Teil muss sich also selbst um seine Balance kümmern, anstatt sich am anderen festzuhalten, damit er oder sie nicht umfällt. Wenn ich mit einer Super-Tänzerin auf dem Parkett unterwegs bin, fasziniert mich immer wieder, wie „leicht“ sie sich (unabhängig von ihrem Körpergewicht) anfühlt. Und irgendwelche Signale kann ich ihr „mit zwei Fingern“ übermitteln, statt sie mit komprimiertem Brustkorb im Klemmgriff über die Fläche zu transportieren.
Des Rätsels Lösung lautet also: Balance. Auch die haben wir geübt!
Ich meine, die Umarmung beim Tango muss flexibel sein, sonst verhindert sie mehr, als sie bewirkt!
Ich bat gestern die Gäste, einige langsame Titel, welche sie zunächst in geschlossener Umarmung interpretiert hatten, nun schrittweise mit deren Auflösung zu versuchen. Das kann ganz allmählich geschehen, indem man beispielsweise zunächst die oberen Hände loslässt und die jeweiligen Arme frei bewegt oder einfach herunterhängen lässt. Oder eine Solodrehung der Partnerin vorschlägt, sich in einer Schattenposition bewegt respektive einander nur noch mit einer Hand hält. Und bei drohenden „Katastrophen“ greift man halt wieder zu, um Schlimmes zu verhindern!
Wie bei so vielem im Tango gilt auch hier: Die Choreografie ist ziemlich egal. Mit Abstand zueinander muss man ja keine parallelen Schritte vollführen – ist bei der üblichen Tanzweise übrigens oft auch nicht der Fall.
Als „Höhepunkt“ der Übung schlug ich dann vor, jeden Körperkontakt aufzugeben und nur noch mit den Augen zu kommunizieren. Das wäre übrigens auch in einer offeneren Tanzhaltung gelegentlich zu empfehlen – besser jedenfalls, als ständig auf die Füße zu starren! Glauben Sie mir: Sie und Ihre Partnerin haben weiterhin genau je zwei Stück: eine linken und rechten, keinen „richtigen“ oder „falschen“!
Wie man den Partner mit Blicken steuern kann, zeigen im Video Fred Astaire und Ginger Rogers:
https://www.youtube.com/watch?v=MXdw4ZfxxSc
Wir haben das gestern sicher nicht annähernd so hingebracht – allerdings fand ich: Jeder und jede tanzte anschließend besser, also selbstständiger als zuvor!
Tango ist halt stets eine Gratwanderung zwischen Autonomie und Verbindung zum Partner – und zwar auf der Rasierklinge. Das hinzubekommen braucht sehr viel Zeit. Denn man darf nicht mehr bevorzugt an die eigenen Schritte denken, sondern muss die volle Aufmerksamkeit dem Tanzpartner widmen.
Aber die tausenden Stunden Praxis sollten Freude machen! Ich habe mir geschworen: Wenn sich in den Pörnbacher Übungszirkeln auch nur fallweise Verbissenheit ausbreitet, gehe ich sofort dazwischen und bringe die Beteiligten auf andere Gedanken!
Gestern ergab sich in der Pause eine Diskussion darüber, was man tun solle, wenn eine Partnerin allzu selbstverliebt irgendwelche ziemlich planlosen Hüpfereien biete. Meine Antwort:
Es gibt beim Tanzen immer wieder Missverständnisse, wenn zum Beispiel eine „Folgende" Unerwartetes, ja Unkalkulierbares liefert. Viele „Führende" reagieren damit, die Dame noch fester und enger zu halten, um damit ihr eigenes Vorhaben durchzudrücken. Ich mache genau das Gegenteil, vergrößere also den Abstand und lasse sie „rumspinnen“. Inzwischen kümmere ich mich darum, freie Räume zu suchen, mich nicht zu sehr von der Musik zu entfernen, den Kontakt zu halten und vor allem so zu gucken, als ob ich das geführt hätte!
Ich berichtete davon, neulich mit einem solchen „Heuhupfer“ getanzt zu haben, und bat einen weiblichen Gast, mal dessen Rolle zu übernehmen. Die Tangofreundin gab sich wirklich alle erdenkliche Mühe, mich aus dem Konzept zu bringen, was sie mehr erschöpfte als mich…
Mir ist klar, dass meine Idee des „Selber Tanzens“ so ziemlich das Gegenteil dessen darstellt, was die Ocho-Ausbilder lehren. Gut möglich, dass demnächst einer meiner werten Gegner, der Tangounterricht gerne mit Schulstunden verwechselt, mal wieder einen Artikel mit dem vermutlichen Titel verfasst: „Jeder für sich allein – hier irrt Riedl“. Ich kann dazu nur sagen, was ich bereits in meinem ersten Tangobuch schrieb: „Gebt meinen Ideen die Chance, sie ein einziges Mal auszuprobieren!“
Wer unsere Práctica in Pörnbach mal selber erleben möchte: Einfach anrufen (08446-732) oder eine Mail (mamuta-kg@web.de) schreiben. Ich melde mich dann!
Wirklich, wenn man schon daran glaubt, mit Blicken auffordern zu sollen, könnte man diese doch wahrlich auch zur Verständigung beim Tanzen einsetzen!
Unsere ambulante Hauskatze zeigt dies ganz deutlich:
Miaurada * www.tangofish.de |
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