Die nichts mehr akzeptieren
„Die Demokratie ist auch heute in vielen Ländern in Gefahr. Deshalb schauen wir zurück auf diese Zeit, da sie uns lehren kann, wie wir die Demokratie verteidigen können.“ (Prof. Sir Richard Evans, Historiker, in der ZDF-Sendung „Hitlers Macht“ 17.1.23)
Zurzeit beobachte ich weltweit eine ganze Reihe von Ereignissen, welche im Einzelnen so verschieden sind, dass man sich über den gemeinsamen Nenner hinwegmogeln kann.
Die USA wurden vor einem Jahr in eine schwere Krise gestürzt, da ein abgewählter Präsident die demokratische Entscheidung zugunsten seines Gegenkandidaten nicht zu akzeptieren bereit war. Tatsachen wurden zu „Fake News“ umgedeutet. Im Endeffekt stürmte ein enthemmter Mob das Kapitol, die Herzkammer der US-Demokratie, und konnte erst nach Stunden von den Sicherheitskräften vertrieben werden.
Kürzlich wurde der Ehemann der bisherigen Sprecherin des Repräsentantenhauses bei einem Anschlag schwer verletzt.
Vor anderthalb Wochen folgte man in Brasilien diesem Beispiel: Anhänger des abgewählten Präsidenten stürmten in der Hauptstadt Regierungsgebäude und das Parlament. Von den Ordnungskräften wurde nur halbherzig Widerstand geleistet, erst die Absetzung des Polizeichefs und des Provinz-Gouverneurs führte zu halbwegs geordneten Verhältnissen zurück. Wie es mit dem neuen Präsidenten weitergeht, steht in den Sternen.
Es ist noch nicht lange her, dass
eine Erstürmung des Berliner Reichstags durch „Querdenker“ (einem
Konglomerat von Spinnern aller Art) von wenigen Polizisten gerade noch verhindert
werden konnte. Auch diese Spezies von Irrgläubigen brachte in ihrer
Hochphase Zehntausende auf die Straße, man schwurbelte von einer per Akklamation
einzuführenden neuen Verfassung, um den herrschen „Unrechtsstaat“ zu
beseitigen. An Demonstrations-Regeln hielt man sich selbstverständlich nicht.
Durch Sympathisanten wurde rechten Provokateuren der Zugang zum Reichstagsgebäude ermöglicht, wo man Abgeordnete beleidigte und bedrängte.
Kürzlich fand eine große Razzia gegen Vertreter der „Reichsbürger“ statt, da man Pläne für einen bewaffneten Umsturz entdeckt hatte.
Zu Silvester tat sich vor allem in Berlin, aber auch in anderen Großstädten, ein Mob vorwiegend junger und männlicher Gewalttäter zusammen, der stundenlang die Polizei, Rettungskräfte, aber auch „normale“ Bürger terrorisierte.
Schon längere Zeit, vor allem aber in den letzten Tagen, setzen sich Straftäter, welche man gerne als „Aktivisten“ bezeichnet, über eine Vielzahl gesetzlicher Bestimmungen hinweg. Zuletzt hielt man wegen der Räumung eines nordrhein-westfälischen 50 Seelen-Kaffs tagelang große Polizeieinheiten auf Trab. Man warf mit Steinen, Erdklumpen sowie Pyrotechnik auf die Beamten und ließ sich nur mit Gewalt (die man sofort heftig beklagte) in Schach halten.
Wo sehe ich den gemeinsamen Nenner?
Zunächst einmal darin, dass Tatsachen in solchen Gruppierungen zur beliebigen Meinungsmasse verkommen. Was einem nicht passt, wird nicht zur Kenntnis genommen oder als reine Schutzbehauptung der Herrschenden umgedeutet. Man sieht sich im Besitz einer „höheren Wahrheit“.
Und wer recht hat, darf offenbar mehr – wenn nicht gleich alles. Man ist ja für die Rettung des Klimas, der Demokratie, der Nation, wenn nicht gar gleich der ganzen Welt, unterwegs. Regeln gelten nur für diejenigen mit den schwächeren Argumenten.
Vor allem die Polizei wird stets zum Gegner, ja Feind erklärt. Eine Umweltaktivistin meinte neulich im Fernsehen, die Beamten müssten sich „neutral“ verhalten, anstatt auf Geheiß des Innenministeriums „Gewalt“ auszuüben. Da scheint es mit der staatsbürgerlichen Bildung gewaltig zu hapern: Die Polizei übt nämlich im Auftrag der Regierung das staatliche Gewaltmonopol aus. Und das kommt ausschließlich ihr zu und nicht Leuten, die meinen, ihre speziellen Forderungen durchsetzen zu sollen.
Damit man mich nicht missversteht: Das Recht, für seine Ansichten öffentlich einzutreten, für sie per Demonstration zu werben, ist ein Grundpfeiler jeder Demokratie. Nicht aber, um es zur Einschüchterung Andersdenkender und Regelverstößen einzusetzen. Der Artikel 8 des Grundgesetzes spricht von friedlichen und unbewaffneten Versammlungen.
Weitere Grundpfeiler der Demokratie sind der respektvolle Umgang untereinander und die Verpflichtung, gesetzliche Regelungen zu beachten. Und genau da sehe ich das Perniziöse an all diesen Unternehmungen:
Es wird nichts mehr akzeptiert, was einem nicht in den Kram passt.
Eine Wahl geht nicht so aus, wie man es sich erhoffte? Dann war sie sicherlich gefälscht. Widerstand ist das oberste Gebot!
Corona-Verordnungen passen einem nicht? Kein Problem, man ist ja zur Vollstreckung eines gefühlten „Volkswillens“ unterwegs! Und außerdem ist die Bundesrepublik eh nur eine „GmbH“…
Man darf nicht mit Feuerwerkskörpern oder Schreckschusswaffen auf andere Menschen zielen? Ja, wer sagt denn das? Die Polizei kann uns mal – sind eh nur lauter Schwächlinge!
Ein jahrelang ausgehandelter Kompromiss zum Braunkohleabbau? Wir sind aber Anhänger der reinen Lehre und somit nicht daran gebunden!
Doch: Der Kompromiss ist die Seele der Demokratie. Schließlich gilt es, die widerstreitenden Interessen von vielen Millionen Menschen halbwegs unter einen Hut zu bringen. Das geht auf keiner Seite ohne Enttäuschungen und Frust ab. Vor allem nicht bei Parteien, welche bei der Bundestagswahl nur knapp 15 Prozent der Stimmen erhielten und dennoch regieren dürfen.
Ich meine, diese Einstellungen werden bereits in der Kindheit geprägt. Viele Eltern enthalten ihrem Nachwuchs heute eine zentralen Lerneffekt vor: das Verarbeiten von Verboten und Misserfolgen. Könnte ja die empfindsame Kinderseele knicken! Zudem fürchtet man den Liebesentzug und erlaubt dann halt noch das fünfte Eis pro Tag. Aber Politik ist kein Salon für Gratis-Gefrorenes…
Friedrich Merz sprach in diesem Zusammenhang neulich von „kleinen Paschas“. Da hat er ausnahmsweise mal recht!
Wahr ist aber: Es ist zwar jedem gestattet, sich die Vorhaben frei zu wählen, welche er oder sie zur Weltrettung für unabdingbar hält. Nicht jedoch, sie mit kleinkindlichem Impetus durchzutrotzen.
Jeder kann anderes für lebenswichtig halten. Ich habe vor einiger Zeit in einer Satire dargestellt, wie wir unsere Ideen zur Tango-Klimaerwärmung per Ankleben auf dem Parkett eines Encuentros durchsetzen könnten. Den bitteren Sinn dieses Textes haben wohl – siehe Facebook – nicht alle verstanden:
https://milongafuehrer.blogspot.com/2022/12/ein-klebriger-protest.html
Obwohl ich will nun wahrlich keine „Nazi-Vergleiche“ anstellen will: Eine Aussage in der oben zitierten Fernsehsendung hat mir zu denken gegeben. Eine Strategie der NSDAP sei es gewesen, mit ihren SA-Schlägertruppen nicht nur Andersdenkende einzuschüchtern, sondern auch, dem Staat das Gewaltmonopol zu entreißen, indem man auch vor Gewalttaten, ja Morden nicht zurückschreckte. Gleichzeitig aber der Regierung zu unterstellen, sie könne die „Sicherheit“ der Bürger nicht mehr garantieren.
Es ist brandgefährlich, an dieser Schraube zu drehen! Wer nichts mehr akzeptiert, ist kein Demokrat.
P.S. Zum Weiterlesen:
https://gerhards-lehrer-retter.blogspot.com/2023/01/zwischen-bollern-und-gedons.html
Foto: www.tangofish.de |
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