„Ich hatte Vorfahrt“

Gestern stieß ich per Zufall auf einen inzwischen über vier Jahre alten Artikel, in dem man sich in der Facebook-Gruppe „Tango München“ (wo sonst?) über die „Rücksichtslosigkeit“ im Parkett-Verkehr echauffierte. Ich schrieb damals:

Kürzlich äußerte sich dort ein Tanzschulbesitzer und zertifizierter Benimm-Experte zu seinem Lieblingsthema, dem Tanzen in ungestörter Ronda:  

„Was ist das eigentlich für eine bescheuerte neue Angewohnheit, kurz auf einen Platz am Rand der Tanzfläche – aber deutlich außerhalb der Ronda – auszuweichen? Oder dort einfach anzufangen und sich dann ‚unauffällig‘ im Reißverschlussverfahren reinzuquetschen? (…) Insbesondere auf fortgeschrittenen Flächen kann ich das nicht verstehen.“

Tja, warum weicht man an den Rand aus? Vielleicht, weil weiter innen kein Platz ist? Ich gestehe: Solche Weisheiten wirken bei mir lebenszeitverlängernd – und allein für den Ausdruck „fortgeschrittene Flächen“ hätte der Autor den Hölderlin-Preis verdient!

http://milongafuehrer.blogspot.com/2018/11/au-weia-tango-tupaja.html

Ich zitierte damals einige empörte Kommentare auf der bekannten Straßenverkehrs-Basis: Schuld haben stets die anderen!

„Es wäre spannend zu erfahren, ob solche Leute dann auch die sind, die einem die Vorfahrt nehmen oder in der U-Bahn schon einsteigen oder direkt vor der Tür stehen, obwohl noch ca. 200 Leute aussteigen wollen.“

„bei einigen muss man aufgrund ihrer wahrnehmungsbefreitheit ja die befürchtung haben, dass sie im straßenverkehr nicht überleben würden. da sie immer wieder auf milongas erscheinen, wird es wohl daran liegen, dass andere tänzer/innen ihnen egal sind.“

„Es ist irritierend, wenn man erst einen gewissen Platz vor sich hat und damit ‚rechnet‘, aber plötzlich ein neues Tanzpaar vor einem auftaucht. Nervig wird es, wenn es mehrfach passiert und man sich mehr auf die herannahenden ‚Gefahren‘ konzentrieren muss, als auf den eigentlichen Tanz.“

Tja, vielleicht mal weniger „angesagte“ Veranstaltungen besuchen, auf denen genug Platz wäre? Es ist halt wie im Auto: Stoßverkehr vergällt einem oft die ganze Freude am Fahren!

Wie üblich waren es meist Männer, welche zu solchen Anmerkungen griffen. Die sind ja auch im Straßenverkehr die besseren! Oder?

Nach meinen Recherchen: Eher nicht!

Statistiken belegen: Etwa zehn Prozent mehr Männer als Frauen halten sich für die besseren Fahrer. Insgesamt glauben überdurchschnittlich viele Führerscheininhaber, am Steuer überdurchschnittliche Fähigkeiten zu besitzen – was mathematisch nicht ganz logisch erscheint.

Zudem zeigen Erhebungen seit vielen Jahren den Trend: Frauen verursachen weniger Unfälle mit Personenschaden.

„Wenn ein Mann der Hauptverursacher eines Unfalls mit Personenschaden war, haben sich bei 1.000 Unfällen dieser Art durchschnittlich 209 Personen schwer verletzt, 12 Menschen starben. Hat eine Frau hingegen den Unfall zu verantworten, wurden pro 1.000 Unfälle mit Personenschaden 185 Menschen schwer verletzt, 6 kamen ums Leben.

Die Verkehrstoten sind zu zwei Dritteln männlich, über sechs Mal mehr Männer als Frauen sind bei Unfällen mit Personenschäden alkoholisiert. Und in der Flensburger Verkehrssünder-Datei finden sich zu zirka drei Vierteln Männernamen.

„Unabhängig davon glaubt die Mehrheit der Bevölkerung nicht, dass das Geschlecht über die Fahrqualitäten entscheidet. Laut der Statista-Umfrage sind knapp 66 Prozent der Männer und knapp 72 Prozent der Frauen überzeugt: Weder Männer noch Frauen fahren besser.

https://www.runtervomgas.de/ratgeber-und-service/artikeluebersicht/frauen-oder-maenner-wer-faehrt-besser-auto/

Gerade im Münchner Tango ist die Tendenz, andere für ihre Defizite im Ronda-Verkehr zu kritisieren, besonders verbreitet. Ich habe in einer Reihe von Artikeln darüber berichtet. Verfügen solche Zeitgenossen selber über ein besonders gutes Navigationsvermögen?

https://milongafuehrer.blogspot.com/2018/02/aktuelles-aus-der-munchner-chaos.html

In Straßenverkehr jedenfalls eher nicht!

So sagt der TÜV NORD-Psychologe Klaus Peter Kalendruschat: „Übermäßiges Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten haben vor allem diejenigen, die am wenigsten Grund dazu haben. (…) Die Tendenz zur Selbstüberschätzung ist gerade beim Autofahren weit verbreitet.“

Selbst Neulinge am Steuer sehen sich selbst in einem allzu rosigen Licht, stellten finnische Verkehrspsychologen fest. Sie hatten mehr als 2700 Prüflinge direkt vor der Führerscheinprüfung um eine Selbsteinschätzung gebeten. 30 bis 40 Prozent meinten besser zu fahren, als die Prüfer ihnen kurz darauf bescheinigten. Am meisten überschätzten sich ausgerechnet jene, die bei der Prüfung durchfielen.

Eine ähnliche Studie in der Türkei ergab sogar eine Selbstüberschätzungs-Quote von 95 Prozent!

„Beim Autofahren ist der Dunning-Kruger-Effekt besonders ausgeprägt, denn diese Fertigkeit verbinden wir mit Autonomie und Erwachsenwerden“, erklärt der Psychologe Kalendruschat von TÜV NORD. Man könne die Menschen aber nicht einfach in ihrem Irrglauben lassen: „Die eigenen Fähigkeiten zu überschätzen, steigert die Risikobereitschaft.“ Leider helfe es meist nicht, Fehler aufzuzeigen oder gute Vorbilder vorzuführen, sagt Kalendruschat. „Wer nicht weiß, wie kluges Fahren aussieht, kann auch nicht erkennen, dass andere klüger fahren.“

https://www.tuev-nord-group.com/de/newsroom/news/details/article/warum-sich-gerade-schlechte-autofahrer-fuer-die-besten-halten/

Ich finde diese Parallelen auch deshalb sehr amüsant, weil man „undisziplinierten“ Tänzern wie mir immer wieder mit Vergleichen zur Straßenverkehrsordnung kam. In einem Artikel, den ich vor fast sechs Jahren verfasste, klang das so:

Wie dem auch sei: Natürlich muss wieder einmal der Vergleich von Ronda-Regeln mit der Straßenverkehrsordnung herhalten. Verschiedentlich wird der „Geisterfahrer“-Begriff exhumiert – und überhaupt thematisiert, wie schön und nützlich doch Verbote seien: „Das sind dieselben, die nicht kapieren, dass Rasen kein Kavaliersdelikt ist. Einschränken von vollpfostiger Bewegungsfreiheit geht gar nicht... *seufz*“, so der Tango-Verkehrsexperte André Dino Deutsch, und Andrea Greiner meint, „die meisten bemerken ja eh nicht, dass sie gerade Mittelspurpupser sind“.

https://milongafuehrer.blogspot.com/2017/04/ringelreihn-fur-zimperliesen.html

Ich glaube, „Verkehrsexperten“ dieser Couleur sollten sich einmal mit dem Paragrafen 1 der Straßenverkehrsordnung befassen:

(1) Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.

(2) Wer am Verkehr teilnimmt, hat sich so zu verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird.

Man sollte also defensiv fahren und stets damit rechnen, dass einem selber und auch anderen Fahrfehler unterlaufen können.

Von „Ich hatte Vorfahrt“ steht da nichts. Diese Feststellung passt besser auf einen Grabstein.

Und vielleicht sollten wir doch im Verkehr mehr Frauen ans Steuer respektive beim Tango führen lassen! Sie können es meist besser. Von anderen Verkehrsformen ganz zu schweigen…

Das Gegenteil behaupteten die Männer noch in den 1960er Jahren – und im Tango oft auch heute:

 


https://www.youtube.com/watch?v=8-H6f4hOFso

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