Social Tango

Mein treuer Leser Tom Opitz hat jüngst auf Facebook ein bemerkenswertes Video verlinkt, zu dem er schreibt:

Willst du wissen, warum ich Tango liebe? Einfach mal zuhören ...

Da sich mein Blog auch die Sorge um Einzelschicksale auf die Fahnen geschrieben hat, habe ich dem Video nicht nur zugehört, sondern den englischen Text sogar übersetzt.

Zunächst zum Titel „Social Tango“: Der wurde in der Vergangenheit gerne mit „Sozialer Tango“ übersetzt, was angesichts der Realitäten natürlich nicht stimmen kann. Tatsächlich leitet sich dies von „Social Dance“ ab, was aber im Englischen lediglich „Gesellschaftstanz“ bedeutet – sprich: Man tanzt halt nicht allein zu zweit im Wohnzimmer, sondern mit anderen zusammen auf dem Parkett – nicht weniger, aber auch nicht mehr!

Nebenbei: Der Begriff „Soziale Milonga“ wurde von uns anlässlich der Eröffnung unseres Pfaffenhofener Tangoabends am 21.4.2007 erfunden. Wir verstanden darunter einen Tangotreff, bei dem keine und keiner sitzen bleibt – es sei denn, er wünsche dies. Alsbald erreichte uns eine männliche Anfrage: „Muss ich dann mit jeder tanzen?“ Leider fiel mir damals die passende Antwort nicht ein: „Es ist sogar noch schlimmer: Jede muss dann mit dir tanzen!“

Die Idee hat sich nicht bewährt.

Zum Video: Im schicken Schwarzweiß sieht man zirka sieben Minuten lang verdächtig jung wirkende Paare leicht zeitlupenverzögert zu unterlegter traditioneller Musik einherschweben: Fresedo, Di Sarli, De Angelis – seffaständlich. Dazu hört man aus dem Off verschiedene, aber nicht unterschiedliche Statements zur tühüferen Bedeutung des Tango. Aber keine Angst: Das sind keine spontanen O-Töne, sondern vorgelesene, gescriptete Texte in elaboriertem Intelligenz-Englisch. Interessant ist auch die Zuordnung zu männlichen und weiblichen Sprechenden (m/w).

Da es dem Satiriker dabei in den Fingern juckt, erlaube ich mir, diese jeweils kurz zu kommentieren:  

„Man wird in diese andere Welt transportiert, in der die Regeln und Mühen des Alltags nicht gelten und in der man irgendwie eine ganz andere und dennoch völlig authentische Version von sich selbst sein kann.“ (m)

Na, dafür gilt ja dort eine Fülle anderer Regeln! Und ich warne: Wenn man in sich geht, entdeckt man vielleicht, dass dort niemand wohnt!

„Es ist ein Gefühl, die Verbindung zu den Menschen um mich herum, die Freundschaften, die Verbindung zur Musik, zu den Menschen und einfach zu mir selbst, und die Möglichkeit, mich frei auszudrücken. Ich fühle mich am freiesten, wenn ich auf dem Parkett bin, mein eigener Himmel ist auf dem Parkett.“ (m)

Na gut, wenn denn diese ganzen Parkettbenutzungs-Richtlinien nicht wären…

„Ich habe das Gefühl, dass sich mein ganzer Körper in Harmonie mit sich selbst bewegt, wenn mein Verstand ausgeschaltet ist, ich lebe voll und ganz in meinem Körper und in nichts anderem, und das ist wirklich süchtig machend, einfach sich selbst zu verlieren und wie gut es sich anfühlt, wenn der Körper sich bewegt.“ (w)

Klar, nur sollte man bei ausgeschaltetem Verstand keine Kommentare schreiben.

„Dass man beim Tanzen viele verschiedene Dinge ausdrücken kann. Man kann Sensibilität, Kreativität, Liebe, Angst, eine breite Palette von Emotionen ausdrücken. Es gibt den emotionalen Teil, aber auch den technischen, intellektuellen Teil, die alle zusammenarbeiten.“ (m)

Sicher – das Großhirn arbeitet stets harmonisch mit der Gefühlswelt zusammen. Kennen wir alle aus unserer Pubertät.

„Ich habe das Gefühl, dass es etwas aus mir herausholt, was auf andere Weise nicht herauskommt, und ich habe das Gefühl, dass ich schon lange davon geträumt habe, und ich wusste nur nicht, welche Form es annehmen könnte. Und es war Tango.“ (w)

Mit dem Herausholen ist es halt so eine Sache. Im Showbiz gilt die Regel: Wenn du etwas aus dem Ärmel ziehen willst, musst du erst einmal etwas hineintun!

„Ich glaube, das Erste, was mich zum Tango hingezogen hat, war die Erkenntnis, dass es möglich ist, etwas zu tanzen, das wie eine komplizierte Choreografie aussieht, aber vielleicht sogar auf der Stelle mit jemandem, den man noch nie zuvor getroffen hat.“ (…) (m)

Schon richtig – nur habe ich in dem Video nichts bemerkt, was wie komplizierte Choreografie aussieht… 

„Was mich zum Tango hingezogen hat, ist, dass ich die alten argentinischen Tango-Shows in den USA gesehen habe und nicht nur die schönen jungen Tänzerinnen und Tänzer, die ihre Pirouetten auf der Bühne drehten, sondern auch die älteren, erfahrenen Leute, die wie dreißig Möbelstücke gebaut waren und sich in Schwäne verwandelten und mit solcher Majestät und federleichter Schönheit darüber glitten. Und ich dachte: Wow, das will ich auch mal machen.“ (w)

Na, meistens klappt es auch, sich wie dreißig Möbelstücke zu bewegen!

„Ich habe einige erstaunliche Menschen durch Tango kennengelernt, die mein Leben, meine Sicht auf das Leben, meine Lebensperspektiven verändert haben, weil sie meine Vermutungen darüber, was ich dachte, dass sie sein würden, völlig zerstört haben.“ (w)

Ich habe beim Tango auch einige Menschen kennengelernt, die meine Vermutungen, wie sie sein würden, völlig zerstört haben!

„(…) Und es ist wahrscheinlich die menschliche Verbindung, zusätzlich zu dem anderen, das diese Neugier wirklich nährt, je mehr ich auf Festivals gehe, desto mehr finde ich eine Chance, mit Menschen zu sprechen und verschiedene Erfahrungen zu entdecken, so viele verschiedene Fenster zu verschiedenen Standpunkten, und es war eine enorme Bereicherung für mich als Mensch, zusätzlich zu der tänzerischen Seite.“ (w)

Aus Erfahrung weiß ich: Man sollte aber beim Tango die richtigen Standpunkte vertreten, sonst kann es sehr ungemütlich werden!

„Bevor ich damit anfing, hatte ich irgendwie Angst vor menschlichem Kontakt. In vielerlei Hinsicht war ich der Typ Mensch, der auf Fotos die Arme schweben lässt, so dass man die Schultern der Leute neben sich nicht ganz berührt und sie nur ein wenig unbeholfen darüberstehen. Und jetzt, meine ich, ist es ganz anders.“ (m)

Kann man meinen. Ich habe bei unserem Tanz aber eine stattliche Anzahl Beziehungsgestörter erlebt!

„Es gibt keine Bezeichnung, die außerhalb des Tangos existiert, um diese Art der Verbindung zu benennen. Ich weiß also nicht wirklich, wie ich es erklären soll, außer dass der Energieaustausch auf einer tiefen Ebene stattfindet und nicht erotisch sein muss, man kennt die Person nicht, man kann sich einfach treffen und zum ersten Mal tanzen und diese Verbindung haben.“ (w)

Das mit der fehlenden Verpflichtung zur Erotik sehen aber viele Männer anders!

(…) Jesus, oh, wir vibrieren, oh, wir sind in der gleichen Schwingung, cool, du fängst an zu tanzen, alles passt so perfekt zusammen, wie ein Puzzleteil, dass ihr bei jeder Bewegung zusammen sein müsst. (…) (w)

Oh nein, der Tango als musikalischer Vibrator… Schluss jetzt, sonst kriege ich diese Bilder nicht mehr aus dem Kopf!

Hier nun das Video (Filmed & Edited by Yelizaveta Nersesova, Sound Design by Lynne Earls):


https://www.youtube.com/watch?v=QFs1VGbTnls

Eine Expertin hat mir dazu berichtet, es gebe zwei Arten, wie Intellekt und Gefühlsleben kooperieren: Entweder der „Bauch“ spüre etwas so intensiv, dass unsere grauen Zellen schließlich verstünden: Ja, es bewegt mich emotional! Oder aber das Großhirn befinde, etwas sei gefühlsmäßig relevant, und teile dies dann unserem restlichen Körper mit: „Sei gerührt!“ „Bottom up“ oder „Top down“. Das Video beschreibt die zweite Möglichkeit.

Ich meine, diese optisch sehr hübsche Produktion hat wieder einmal die Chance verpasst, den Tango in seiner Dialektik darzustellen: Sicherlich gibt es all die schönen Momente, aber halt oft auch das Gegenteil. Sich ehrlich zu machen gilt jedoch bei unserem Tanz weiterhin als Todsünde.

So lässt man halt sorgsam ausgewählte Paare natürlich zu einer historischen Musik im gleichförmigen Encuentro-Stil tanzen und unterlegt das Ganze mit der üblichen Talmi-Rhetorik. Die Botschaft: So ist Tango.

Irrtum: Tango geht auch anders!

Kommentare

Hinweis zum Kommentieren:

Bitte geben Sie im Kommentar Ihren vollen (und wahren) Namen an und beziehen Sie sich ausschließlich auf den Inhalt des jeweiligen Artikels. Unterlassen Sie herabsetzende persönliche Angriffe, gegen wen auch immer. Beiträge, welche diesen Vorgaben nicht entsprechen, werden – ohne Löschungsvermerk – nicht hochgeladen.
Sie können mir Ihre Anmerkungen gerne auch per Mail schicken: mamuta-kg(at)web.de – ich stelle sie dann für Sie ein.