Tanzverbote

Wenn man sich länger mit der Geschichte des Gesellschaftstanzes beschäftigt, wird einem klar: Viele Tänze galten zunächst als anrüchig oder wurden gar untersagt, bevor sie populär wurden und große Erfolge erzielten.

Der älteste der modernen bürgerlichen Gesellschaftstänze, der Walzer, entstand um 1800 in Breslau und Wien. Wegen seiner engen Haltung (und wohl auch der fliegenden Röcke) war er in den besseren Kreisen zunächst als „unzüchtig“ verpönt. Seinen sozialen Durchbruch erlebte er 1814/15 beim Wiener Kongress.

https://de.wikipedia.org/wiki/Wiener_Walzer

Natürlich traf es auch den Tango: Erstaunlicherweise ging er bei der katholischen Kirche gerade so durch, nicht aber bei Kaiser Wilhelm II: Nach dem Besuch einiger Tangotanzveranstaltungen soll er gesagt haben: Es hätte ihn nicht gewundert, wenn die Tanzenden zwischendurch wie Affen auf die Bäume geklettert wären und von dort die Zuschauenden mit Kokosnüssen beworfen hätten.

1913 lässt der Monarch seinen Offizieren das Tangotanzen in Uniform verbieten. Auch am Hofe ist es untersagt:

„Wir verpflichten hiermit durch die Hofansage die gesamten Hofstaaten, Chargen und Rekrutierten, sich sowohl in der Öffentlichkeit als auch im Privaten eines ausgesprochen widerwärtigen Tanzes zu enthalten. Auch die Mitglieder der allerhöchsten Familie sind bei Ordre gehalten, sich dieser fremdländischen Unsitte zu entziehen."

https://www1.wdr.de/stichtag/stichtag7930.html

Ausgerechnet der argentinische Botschafter in Berlin ließ dabei verlauten, dass er den aus seiner Heimat stammenden Tanz auf seinen „Gesandtschaftsbällen auf das strengste verbiete“, denn, so der Diplomat, „bei uns tanzen ihn nur Verbrecher und Dirnen".  

https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/156355/tangomanie-die-erste-tanzwelle/

Auch insgesamt zog man in der Zeit gegen die „Wackel- und Schiebetänze“ zu Felde. So besagte eine örtliche Polizei-Anordnung:

„Jede vollständige oder erhebliche Verfinsterung des Saales, jedes Tanzen in sittlich Anstoß erregender Weise, wie z. Bsp. Schiebe-, Wackel- und Knicktänze oder Mondscheinwalzer können eine Strafe von 150 Mark oder mit Haft bis zu 14 Tagen bestraft werden!“

https://www.neustadt-ticker.de/146711/alltag/vor-100-jahren/bekaempfung-der-wackel-und-schiebetaenze

Während es in der Weimarer Republik dann ziemlich locker zuging (siehe Charleston), war den Nazis Fremdländisches auf dem Tanzboden höchst verdächtig.

Swingtanz-Verbote wurden ab 1937 auf örtlicher oder regionaler Ebene verhängt. Ab Kriegsbeginn 1939 untersagte man öffentliche Tanzveranstaltungen zunehmend. Nach der deutschen Niederlage in Stalingrad im Februar 1943 musste das vom Reichsinnenminister und SS-Führer Heinrich Himmler erlassene generelle Tanzverbot strikt befolgt werden.

Dagegen opponierte eine Bewegung, die man als „Swing-Jugend“ bezeichnete – oder auch „Swing-Heinis“. Deren Anhänger kleideten sich bewusst anglo-amerikanisch, benützten Anglizismen und grüßten einander statt mit „Sieg Heil“ mit „Swing Heil“. Man engagierte Jazzbands und lud zu Tanzveranstaltungen ein, oft auf privater Basis.

Die Reichsjugendführung berichtete:  

„Die Angehörigen der Swing-Jugend stehen dem heutigen Deutschland und seiner Polizei, der Partei und ihren Gliederungen, der HJ, dem Arbeits- und Wehrdienst, samt dem Kriegsgeschehen ablehnend oder zumindest uninteressiert gegenüber. Sie empfinden die nationalsozialistischen Einrichtungen als einen ‚Massenzwang‘. Das große Geschehen der Zeit rührt sie nicht, im Gegenteil, sie schwärmen für alles, was nicht deutsch, sondern englisch ist.“

Heinrich Himmler reichte es schließlich. 1942 schrieb er:

„Meines Erachtens muss jetzt das ganze Übel radikal ausgerottet werden. Ich bin dagegen, dass wir hier nur halbe Maßnahmen treffen. Alle Rädelsführer sind in ein Konzentrationslager einzuweisen. Dort muss die Jugend zunächst einmal Prügel bekommen und dann in schärfster Form zur Arbeit angehalten werden.“

https://de.wikipedia.org/wiki/Swing-Jugend

Nach dem Krieg ging es „fröhlich“ weiter. Gerade der recht aggressive Rock’n’Roll führte Mitte der 1950er Jahre zu heftigen Debatten – übrigens nicht nur hierzulande, sondern auch in den USA und der DDR.

Meiner Generation ist der Begriff „Negermusik“ noch geläufig – und die SED-Genossen störte vor allem die „westliche Dekadenz“. So schrieb damals die FDJ-Zeitung „Junge Welt“ über die Ikone Elvis Presley:

„Sein ‚Gesang' glich seinem Gesicht: dümmlich, stumpfsinnig und brutal. Der Bursche war völlig unmusikalisch (...) und röhrte wie ein angeschossener Hirsch, nur nicht so melodisch."

„Auseinander Tanzen“ war verpönt und wurde in den Kulturhäusern von der FDJ verhindert. Als Alternative setzte man das Kunstprodukt „Lipsi“ dagegen und scheiterte kläglich.

https://milongafuehrer.blogspot.com/2016/03/auseinander-tanzen-verboten.html

Auch dem Rock’n’Roll-Nachfolger Twist erging es nicht gut:   

In Deutschland bezeichneten die Kritiker den Twist als „Sexualtrauma“, und die kreisenden und schiebenden Bewegungen der Hüfte wurden als anstößig empfunden. Orthopäden warnten vor Knieverletzungen und Wirbelsäulenschäden. Der österreichische Bezirk Bregenz erließ 1962 sogar ein Twist-Verbot:

„Die Bezirkshauptmannschaft Bregenz ist der Auffassung, dass der in letzter Zeit aufgekommene Modetanz ‚Twist‘ geeignet ist, Ärgernis zu erregen und das Sittlichkeitsgefühl weiter Kreise der Bevölkerung zu verletzen. Es wird daher von den Gemeinden erwartet, dass sie bei der Erteilung von Bewilligungen von Tanzunterhaltungen ausdrücklich auf die Bestimmung des §5 des Tanzunterhaltungsgesetzes hinweisen und als Beispiel eines verbotenen Tanzes den ‚Twist‘ anführen.“

https://de.wikipedia.org/wiki/Twist_(Tanz)

Höchst verdächtig sind Tanz-Lustbarkeiten in den muslimischen Staaten, vor allen in Ägypten und dem Iran:

„Die 17-jährige Maedeh Hojabri hatte Hunderte Videos auf Instagram gestellt, in denen sie zu persischen Popliedern tanzt. Sie wurde festgenommen und musste weinend im iranischen Staatssender IRIB Reue zeigen. Nach den streng islamischen Kriterien des Gottesstaates sind die Tänze sittenwidrig, zum Teil sogar pornografisch.“

https://www.sueddeutsche.de/leben/iran-tanzverbot-1.4045504

Nach dem Koran ist zwar das Tanzen nicht explizit verboten. Dennoch wird diese Aktivität oft als „sittenwidrig“ verfolgt. Am ehesten ist man mit religiösen Tänzen aus dem Schneider – oder mit solchen, bei denen die Geschlechter nicht gemischt auftreten bzw. kein westlicher Einfluss erkennbar ist.

Auch hierzulande ist das Tanzen an bestimmten „Stillen Feiertagen“ aus religiösen Gründen eingeschränkt.

https://de.wikipedia.org/wiki/Tanzverbot

Das Schema solcher Entwicklungen ist fast stets das Gleiche: Neuerer kreieren einen frischen, oft ziemlich wilden Tanzstil. Dagegen erhebt sich ein Spießer-Chor: Der Tanz sei „fremdländisch“ und verderbe die Sitten. So gut wie immer setzt sich aber mittelfristig der Spaß gegen die bürgerliche Verkniffenheit durch.

Seit Jahren rätsle ich über eine große Ausnahme: den Tango. Nachdem seine Entwicklung von Villoldo über Piazzolla bis zum Elektrotango der historischen Erfahrung folgte, ist seit etwa 15 Jahren ein Umschwung festzustellen: Der „wilde“ Tanz wurde zunehmend gezähmt: Auf vielen Milongas zieht man sich zumindest einen sozialen Schiefer ein, wenn man sich nicht an Aufforderungs-Riten, Tanzspur-Verordnungen und Beinhebeverbote hält. Und wer bei einem Encuentro mittanzen möchte, wird wohl schon bei der Anmeldung gesinnungsmäßig überprüft.

Die geltend gemachten Gründe sind nicht neu: Bekämpft werden das Undisziplinierte, die Rücksichtslosigkeit und das angebliche Bedrängen der Frauen beim Auffordern. Sittlich unbedenklich ist allerdings das heftige Aneinanderpappen der Geschlechter. Und jeder wird kritisiert, der sich als Europäer nicht dem „Fremdländischen“ (also Argentinischem) fügt.

Tanzen ist im Kern anarchisch. Wer das fürchtet, muss Regeln erfinden.

Zurück in die Vergangenheit?

Ich fürchte, die lockeren Zeiten sind auch politisch vorbei. Der Trend zu rechten Parteien ist in vielen Ländern zu sehen. Man verehrt angebliche „Bewahrer der Sitten“, die meist nicht mehr darstellen als reaktionäre Autokraten. Und die wollen, dass endlich mal wieder „Anstand und Moral“ gelten – dass alles seine rechte Ordnung hat.

Dass diese „Ordnung“ 1945 in Deutschland ein Trümmerfeld hinterließ, vergisst man.

Na gut, dann werde ich halt auf meine alten Tage noch ein „Swing-Heini“ – oder, wie es die Nazis auch nannten, ein „Tangobubi“

https://www.youtube.com/watch?v=vdfVqQN-RFs

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