Musik-Sensation im Kurhaus

Gestern Abend im Kursaal Bad Gögging: An die 50 Gäste, zwischen ihnen etliche leere Plätze. Wir kennen die Location sehr gut, da wir schon viele Male auf dieser Bühne standen.

Vor Konzertbeginn war dort ein Stuhl zu sehen, drei Meter daneben ein einsamer Notenständer. „Tolles Bühnenbild“, schoss es mir durch den Kopf.

Ein Akkordeonspieler nahm Platz und eröffnete den Abend mit einer Piazzolla-Romanze – wunderbar die Sehnsuchtsmotive ausgespielt, die beim Meister des Tango nuevo immer wieder anklingen. Gänsehautmusik! Nach anderthalb Minuten gesellte sich ein Geiger hinzu, beteiligte sich an dem Stück, das plötzlich in eine fulminante Version von „Libertango“ überging. Ich habe diesen Titel schon hunderte Male in unterschiedlichsten Arrangements erlebt. Aber so noch nicht – er ließ uns atemlos zurück!

Um es vorwegzunehmen: In 24 Jahren habe ich hunderte Tangoensembles kennengelernt – live und natürlich über YouTube-Videos und Tonaufnahmen. Eine solche Darbietung noch nicht. Musik aus einer anderen Welt!

Rein zufällig hatte ich von dem Konzert in der Werbemail einer Vorverkaufs-Firma gelesen. Das Ensemble „Milonga Sentimental“ sagte mir gar nichts. Aber wir hatten an diesem Abend nichts anderes vor, und so machte ich mich mit meinen Musikerinnen Bettina und Karin nach Bad Gögging auf.

Auftritt der Sängerin Malena Grandoni mit dem Gardel-Klassiker „El día que me quieras“. Wahrscheinlich kommt die Sängerin von der Oper – daher wohl die große Geste, der Hang zur Dramatik. Sie gestaltet wunderbar mit sicherer Intonation und einem Mezzosopran, der prima zum Tango passt.

Gut, ein bisschen weniger Glitzerklamotte und Augenrollen hätten mir auch gereicht – aber das passt halt zur Emotion des Tango – und genau die rüberzubringen war stets das Ziel des Ensembles.

Der Star der Gruppe aber ist zweifellos ihr Mann Andres Grandoni mit seinem Akkordeon, der alle Titel arrangiert und bearbeitet hat. Was der auf seinem Konzert-Knopfakkordeon abliefert, kann man nur mit Größen des Tango wie Troilo oder Piazzolla vergleichen. Jedes Stück ist in allen Phasen mit Höchstschwierigkeiten ausgestaltet. Noch dazu kann er seinem Instrument Töne und Stimmungen entlocken, die ich so noch nie gehört habe. Das Ganze, auch bei traditionellen Titeln, Lichtjahre entfernt vom metrisch öden Herunterspielen eines Tangoschlagers.

Aber meisterliche Technik ist für die Musiker nie Selbstzweck. Vielmehr stellen sie gekonnt dar, welche Kraft und Fülle auch in den alten Tangos steckt. Ihr Ziel ist nicht das Großhirn der Zuhörer, sondern seine Gefühlswelt. Und die treffen sie, auch und gerade bei den anwesenden Laien, mit großer Wucht.

Für mich völlig unbegreiflich: Andres Grandoni spielt das ganze Konzert auswendig. Ich bin mir nicht mal sicher, ob es für seine Bearbeitungen komplette Notationen gibt. Der Mann ist ein Instinktmusiker, noch dazu mit einem natürlichen, ungekünstelten Auftreten. Knapp, aber charmant moderierte er zusammen mit seiner Frau das Programm.

Ebenso mit Spaß an der Darbietung agiert der Geiger Leonardo Torres, der mit seinem Partner ein kongeniales, symbiotisches Duo bildet. Technisch meistert er ebenfalls – scheinbar mühelos –  Höchstschwierigkeiten, und das sensibel und emotional.

Eine Sternstunde war für uns der Titel „Mí Buenos Aires querido“, bei dem das Akkordeon zunächst mit dem Balg Meeresrauschen sowie Dampfer-Hörner intoniert, während die Geige Mövenrufe von sich gibt. Und ja, singen kann Andres Grandoni auch – er interpretiert zusammen mit seiner Frau die Gardel-Hymne an dessen Heimatstadt.

Die Klassiker wie das wunderbar gestaltete „El Choclo“ oder „A media Luz“ kamen nicht zu kurz, und bei der „Milonga sentimental“ bewies die Gruppe, dass in dem Stück eine Kraft und Dynamik steckt, welche man auf den üblichen Tanzveranstaltungen schmerzlich vermisst.

https://www.youtube.com/watch?v=OnhPGnlvd-E

https://www.youtube.com/watch?v=Wyp3PDZEgYo

https://www.youtube.com/watch?v=AWe3ZCYDDOw

Andres Grandoni hat aber auch Höheres im Blick. So präsentierte er mit Leonardo Torres eine Tango-Bearbeitung von Paganinis Capriccio Nr. 24. Der größte Komponist ist für ihn aber Johann Sebastian Bach. Vor dem Frühstück, so verriet er, spiele er zum Aufwärmen gerne ein, zwei Bach-Inventionen – und dessen berühmte Toccata und Fuge in D-Moll nutzte er für eine atemberaubende Tangoversion: „Bach ad Portas“.

Turbulent endete der Abend mit dem Walzer-Klassiker „Cielito lindo“, bei dem das Publikum zum Mitsingen aufgefordert wurde – was sich Karin und Bettina natürlich nicht zweimal sagen ließen!

Als Zugabe hauten die beiden Instrumentalisten noch Vittorio Montis Czárdás heraus, dass uns die Luft wegblieb. Riesiger Applaus!

https://www.youtube.com/watch?v=ncrO59wh1bM

Ich glaube, wir Drei waren beim Konzert die einzigen Besucher aus der Tangoszene – obwohl im selben Kurhaus jeden Donnerstag eine lokale Gruppe Milongas veranstaltet. Aber klar – Musik steht bei Tangoleuten, vorsichtig ausgedrückt, nicht im Zentrum des Interesses. Und was man an diesem Abend zu hören bekam, ist halt meilenweit von dem entfernt, was man uns bei den üblichen Milongas vor die Füße kippt. Wir hätten gerne dazu getanzt – aber wir wollten die GEMA-Gebühr nicht noch verteuern.

Als Erinnerung bleiben uns auch zwei signierte CDs der Gruppe, die wir im Pörnbacher Wohnzimmer sicherlich mal tänzerisch interpretieren werden.

Wenn man so eine Musik hört, so die ersten Kommentare meiner Begleiterinnen, wolle man eigentlich selber aufhören zu spielen… Nun, beim Enthusiasmus der beiden ist das eher nicht zu befürchten! Ich entgegnete, im Leben stets nach Leuten gesucht zu haben, die etwas besser konnten als ich. Und ich glaube, diese Inspiration werden sich auch meine Musikerinnen nicht nehmen lassen!

24 Jahre bin ich nun beim Tango – aber das Ensemble „Milonga Sentimental“ (obwohl schon 2004 gegründet) war bislang nirgends Gesprächsthema. Auch das sagt viel über unsere Szene aus – und auch die Medien. Während im Fernsehen rund um die Uhr oft musikalischer Müll dudelt, tingelt eine solch fantastische Gruppe durch die Kurbäder und Kulturzentren.

Mir fällt dazu ein Satz von Ray Bradbury aus „Fahrenheit 451“ ein:

„Beurteile nie ein Buch nach seinem Einband.“  

Auf ihrer Website gibt es eine Liste mit Konzertterminen. Ich kann nur empfehlen, diese Gruppe einmal auf der Bühne zu erleben. Am 26.8.23 kann man sie mit ihrem Programm „Eine italienische Nacht“ noch einmal in Bad Gögging hören.

https://www.milonga-sentimental.de/

https://okticket.de/tickets-una-notte-italiana-im-kursaal-bad-goegging-bad-goegging-kurhaus-2023-08-26-e40799

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