Auseinandertanzen verboten
Dieses
Bild einer gleichnamigen Ausstellung von 1938 zeigt einen von den
Nationalsozialisten synonym mit „Negermusik“
verwendeten Begriff.
Weiterhin begegnen wir im „Arbeiter-
und Bauernstaat“ der 50-er Jahre den geliebten „Tanzflächen-Benutzungsordnungen“.
Das Parteiorgan „Neues Deutschland“
schrieb: „Wenn im Kulturhaus einige Jugendliche beginnen, den Tanzsaal mit einer
Turnhalle zu verwechseln, werden sie vom Klubdienst aufgefordert, anständig zu
tanzen. Dabei erziehen sich die Tanzpaare gegenseitig. Wer nicht hören kann,
wird kurzerhand aus dem Saal gewiesen.“ Flugs wurden Schilder aufgehängt: „Auseinandertanzen verboten". Nun, auch dies hat ja seine
kulturgeschichtlichen Wurzeln:
Allerdings dämmerte selbst den Einheitssozialisten, man müsse wohl auf Dauer dem westlichen Einfluss etwas Eigenes entgegensetzen. So gab der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht die Marschrichtung vor: „Es genügt nicht, die kapitalistische Dekadenz in Worten zu verurteilen, gegen Schundliteratur und spießbürgerliche Gewohnheiten zu Felde zu ziehen, gegen die ‚Hotmusik' und die ekstatischen ‚Gesänge' eines Presley zu sprechen. Wir müssen etwas Besseres bieten."
Ach nein, liebe Leser, das ist mir zu heiß - ich überlasse es euch!
Sehen wir uns stattdessen noch die Erinnerungen der Kabarettistin Gabi Decker an:
„Ihre Kritikpunkte
waren unter anderem ‚sinnlose Anwendung von Synkopen‘, die ‚Schlagzeugorgien‘, ‚künstlerische
Zuchtlosigkeit‘, ‚Verlotterung und Verschlampung im musikalischen Ausdruck‘ und
die ‚unanständigen Tanzformen‘.“
Bereits 1932 (!) verbot die Reichsregierung unter Franz
von Papen Auftritte schwarzer Musiker.
Auch nach dem Krieg wurde das Unwort von der „obszönen Negermusik“ von Kirchen,
Schulen und Politikern weiterverwendet, nun aber im Blick auf die neue
Jugendkultur des Rock’n'Roll – in der
DDR allerdings mit der Abweichung, dass man ideologisch kaum über die
unterdrückten schwarzen Sklaven lästern konnte und daher lieber von „Amimusik“ sprach.
Wenn man die sinnlichen Beats und
Hüftschwünge, die „schreckliche Unruhe auf der Tanzfläche“ (Cassiel, fass!)
sowie die hohe Verletzungsgefahr bedenkt, kann man wahrlich schon mal den
Weltuntergang heraufbeschwören:
Typisch für solche „Kulturkämpfe“ ist stets die
Behauptung, die angefeindete Musik sei künstlerisch wertlos. So schrieb damals
die FDJ-Zeitung „Junge Welt“ über die Ikone Elvis Presley: „Sein ‚Gesang' glich seinem Gesicht: dümmlich, stumpfsinnig
und brutal. Der Bursche war völlig unmusikalisch (...) und röhrte wie ein
angeschossener Hirsch, nur nicht so melodisch."
Auch
„Quotenregelungen“ hinsichtlich der anzubietenden Musik gibt es nicht erst seit
den Auseinandersetzungen im Tango: Im Januar 1958 legte die SED-Führung fest,
dass 60 Prozent der Musik, die in den Medien gespielt wurde, von Komponisten
aus der DDR oder den sozialistischen Bruderstaaten stammen müssten. Dies galt ebenso
für das Repertoire von Tanzorchestern.
Allerdings dämmerte selbst den Einheitssozialisten, man müsse wohl auf Dauer dem westlichen Einfluss etwas Eigenes entgegensetzen. So gab der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht die Marschrichtung vor: „Es genügt nicht, die kapitalistische Dekadenz in Worten zu verurteilen, gegen Schundliteratur und spießbürgerliche Gewohnheiten zu Felde zu ziehen, gegen die ‚Hotmusik' und die ekstatischen ‚Gesänge' eines Presley zu sprechen. Wir müssen etwas Besseres bieten."
Komponisten
und andere „Kulturschaffende“ wurden entsprechend beauftragt. Schließlich fiel
die Wahl auf René Dubianski, welcher
aus Walzer und leichtem Latinorhythmus Tanzmusik im Sechsvierteltakt schuf, die
man nach der Heimatstadt der meisten Beteiligten „Lipsi“ taufte (Lipsia ist der lateinische Name für
Leipzig). Das dortige, damals schon etwas angejahrte Tanzlehrerpaar Christa und Helmut Seifert choreografierte flugs die Neuschöpfung. Man
warf eine riesige Propagandamaschine an, inklusive Tanzwettbewerben, Einsatz
des Schlagerstars Helga Brauer sowie
des Rundfunk-Tanzorchesters Leipzig unter
Kurt Henkels und der Aktivierung der Freien Deutschen Jugend als
Pflichttanzorganisation: Jeder FDJ-Funktionär hatte Lipsi zu lernen. Über die tränentreibenden Einzelheiten berichtet
der Ex-DDR-Journalist Klaus Taubert (siehe
http://www.spiegel.de/einestages/der-lipsi-modetanz-made-by-sed-a-951419.html):
„Ich war damals für
ein paar Monate in der FDJ-Kreisleitung Erfurt-Land tätig und erlebte die
ernste Seite der heiteren Muse hautnah mit. Im Sitzungssaal wurden Tische und
Stühle beiseitegeschoben, wir stellten uns paarweise auf, der 1. Sekretär mit
der Sekretärin, der 2. Sekretär mit der Buchhalterin, der 3. Sekretär mit der
Hauptkassiererin und ich… mit dem Kraftfahrer. Denn mehr Frauen gab es nicht.
Vom Plattenteller
sang Helga Brauer: ‚Heute tanzen alle jungen Leute im Lipsi-Schritt, nur noch
im Lipsi-Schritt‘. Dazu hüpften wir los, als gelte es das Sackhüpfen zu kultivieren.
Werner, unser Chef und Tanzlehrer hatte sich sein Talent in ähnlichen
Veranstaltungen in der FDJ-Bezirksleitung geholt. Theoretisch hatten wir uns
durch das Studium des ‚Neuen Deutschland' auf die Tanzstunde
vorbereitet, denn dort waren die Lipsi-Schritte erläutert und zeichnerisch
dargestellt.“
Hier (ab 1:30) eine Reminiszenz der „sozialistischen EdO" in gepflegter Ronda:
Hier (ab 1:30) eine Reminiszenz der „sozialistischen EdO" in gepflegter Ronda:
Pflichtgemäß
schwärmte das „Neue Deutschland“: „Das
Bewegungsbild ist voller Harmonie und mit seinem Lösen und Wiederfinden der
Partner, mit seinen Solodrehungen ganz und gar modern. Unsere Jugend will sich
nicht in ständiger geschlossener Tanzhaltung bewegen, sie wünscht sich
Bewegungen, wie sie der Lipsi bringt, freilich weit entfernt von jenen
geschmack- und hemmungslosen Verrenkungen überseeischer Tanzimporte, die ebenso
wie die ohrenbeleidigenden Jazzverfälschungen aller Art die Gehirne einer zu ‚Rettern des Abendlandes' vorgesehenen Jugend der westlichen Länder
vernebeln."
Sprich:
Die deutsche Jugend durfte nunmehr „auseinandertanzen“, aber halt „anständig“.
Eine
mitreißende Demo der Protagonisten beginnt auf dem folgenden Video ab 2.52:
Man
hatte allerdings die Rechnung ohne die DDR-Jugend gemacht, die sich großflächig
weigerte, den Rock’n Roll und Twist gegen das „Plasteprodukt“ aus der
Funktionärsebene einzutauschen. Bereits Ende 1960 redete kaum noch einer vom Lipsi oder tanzte ihn gar – obwohl die
SED ihren Modetanz sogar weltweit zum Patent angemeldet hatte! Und der Dirigent Kurt Henkels floh, der andauernden musikalischen Diktate überdrüssig, alsbald in den Westen.
Soll
ich nun Parallelen zum jetzigen Streit über die „código-gemäße“, brave und
anständige Tanzweise im Tango nebst der entsprechenden Musik ziehen?
Sehen wir uns stattdessen noch die Erinnerungen der Kabarettistin Gabi Decker an:
Nice, Danke
AntwortenLöschenBitte, gerne!
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