Alternative: Fakten?


Ich bin ein großer Anhänger von Fakten als Alternative zu Stimmungen, welche Medien und vor allem soziale Netzwerke verbreiten oder gar erzeugen.

Während in den letzten Tagen alles nach Berlin schaute, wo man gefühlt kurz vor dem Sturz der Regierung stand, ging ich einer Meldung des „Heute Journals“ im ZDF nach, das einmal wieder sein aktuelles „Polit-Barometer“ vorstellte. Ich fand die Zahlen so interessant, dass ich sie zu einem Post auf meinen Facebook-Seiten verwendete:

„Die derzeitigen Corona-Schutzmaßnahmen halten 60 % für gerade richtig, 28 % für zu gering und 10 % für übertrieben.
Für strengere Kontrollen der Kontaktbegrenzungen sprechen sich 77 % der Befragten aus – selbst bei den AfD-Anhängern sind es noch 48 %. Besonders wichtig hält man diese Maßnahmen bei öffentlichen Veranstaltungen (79 %) und privaten Feiern (70 %).“

Einer meiner Stammleser reagierte prompt darauf:

Wer kontrolliert diese Zahlen, oder müssen wir die einfach glauben? Ich glaube keiner Statistik, die ich nicht selbst gefälscht habe.“

Eine weitere Kommentatorin war ähnlicher – natürlich ebenso wenig begründeter – Meinung:

„...diese Statistik halte ich auch für sehr fragwürdig!“ Ausrufezeichen. Weiter nix.

Dazu muss man wissen: Der obige Schreiber postet seit Monaten auf allen möglichen Accounts seine stets gleiche Suada: Er wolle Tango tanzen und sich nicht einschränken lassen. Das Leben sei schließlich stets ein Risiko.

Ich versuchte nochmal einen Kontakt zur Realität und zitierte die demoskopische Methode:

„Die Umfrage zum Politbarometer…
… wurde wie immer von der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen durchgeführt. Die Interviews wurden in der Zeit vom 25. bis 27. August 2020 bei 1.303 zufällig ausgewählten Wahlberechtigten telefonisch erhoben. Dabei werden sowohl Festnetz- als auch Mobilfunknummern berücksichtigt.
Die Befragung ist repräsentativ für die wahlberechtigte Bevölkerung in Deutschland. Der Fehlerbereich beträgt bei einem Anteilswert von 40 Prozent rund +/- drei Prozentpunkte und bei einem Anteilswert von zehn Prozent rund +/-zwei Prozentpunkte.“

Die Reaktion des Kommentators: Was er denn machen solle, damit er meine Posts nicht mehr lesen müsse?

Mein Rat: Die FB-Freundschaft kündigen (um die übrigens er gebeten hatte). Ich habe es dann für ihn erledigt.

Keine Chance – umgehend kam der Predigt x-te Version:

„Ich habe nicht die FB Freundschaft gekündigt, ich habe mich nur aus dem Blog verabschiedet. Mir geht das Corona hin und her auf den Keks. Alle sind der Meinung, nur ihre Idee ist richtig. Für mich ist es keine Verhältnismäßigkeit mehr. Ich will Tango tanzen und Leben genießen. Wie viel Zeit mir hierzu bleibt, weiß ich nicht. Also nutze ich meine Lebenszeit und lass mich nicht einengen von Vorschriften, die nichts bringen und nur Angst und Panik erzeugen. Denn es gibt vieles was mich umbringen kann. Corona, eine Erkältung, ein besoffener Autofahrer oder mein Blutzucker, alles kann tödlich sein.“

Ich habe den Schreiber dann auf FB gesperrt. Jetzt muss er nichts mehr von mir lesen.

Dem nächsten Kommentator war es danach, mit mir eine lichtvolle Diskussion darüber anzuzetteln, ob es eine Statistik oder eine Graphik sei, die auf statistischen Erhebungen beruhe.

Da auch hierbei meine Bitte, doch zum eigentlichen Thema zu schreiben, nicht erhört und stattdessen zur bewährten persönlichen Ironie übergegangen wurde, darf auch dieser Herr nun ohne mich auskommen.

Wer jetzt automatisch den „Zensur-Reflex“ bedienen möchte:

Meine Facebookseiten und auch mein Blog stellen mein höchstpersönliches digitales Wohnzimmer dar. Ich biete dort Themen zur Kenntnisnahme und Diskussion an. Wen sie nicht interessieren: kein Problem, einfach weiterscrollen. Wer über die Sache reden möchte – gerne. Wer stattdessen etwas anderes vorhat, fliegt raus.

Ich will in meiner guten Stube weder Zeugen Jehovas, die ungefragt mit mir beten wollen, noch „Zeugen Coronas“, die dort ihre Glaubensbekenntnisse aufsagen und sich strikt weigern, Fakten zur Kenntnis zu nehmen. Und schon gar keine Zeitgenossen, die mir immer schon mal mitteilen wollten, was ich für ein Depp sei.

Zum Inhalt:



Es gibt nicht den mindesten vernünftigen Grund, die Umfragewerte der „Forschungsgruppe Wahlen“, eines der führenden deutschen Meinungsforschungsinstitute (existiert seit 1974) pauschal anzuzweifeln. Die Hochrechnungen, welche uns solche Quellen meist schon eine halbe Stunde nach
Schließung der Wahllokale liefern, sind seit bald einem halben Jahrhundert beeindruckend realistisch.

Und natürlich veröffentlichen solche Institutionen auch genaue Angaben zu ihrer Methodik, die man sich einmal durchlesen könnte:

Die Realitätsverweigerung, der ich seit einigen Monaten hierzulande begegne, macht mich fassungslos. Klar, auch bei früheren Debatten war es Usus, zitierte Aussagen und Quellen kritisch zu überprüfen und Interpretations-Spielräume zu nutzen. Aber dass man nun generell alle Tatsachen, die einem nicht passen, kurzerhand für unwahr erklärt, entzieht jeder rationalen Diskussion die Basis.

Horrender Blödsinn wird als gleichrangig zu Erkenntnissen hingestellt, welche in langen Zeiten sämtliche „Faktenchecks“ bestanden haben. Wir stehen kurz davor, auch den Satz des Pythagoras oder das Newtonsche Gravitationsgesetz als rein persönliche Meinung hinzustellen, die man glauben kann oder auch nicht.

Nun gut, wer das meint, findet heute im geistigen Sondermüll des Internets genügend Endlager. Nur bitte nicht auf meinen Seiten – denn jede Veröffentlichung mehr fördert den Eindruck: Man liest das ja immer wieder, also wird schon was dran sein.

Ist es nicht.

Was die „Retter der Freiheit“ derzeit auf der Straße herumplärren, ist überhaupt nicht Volkes Meinung: Nach dem zitierten ZDF Politbarometer erhielten bei einer Bundestagswahl die Union 38 und die SPD 16 Prozent – die derzeitige Bundesregierung würde also mit 54 Prozent in ihrem Amt bestätigt. Alternative wäre eine schwarz-grüne Koalition, welche es auf insgesamt 57 Prozent brächte. Die FDP läge bei 5, die Linke bei 8 und die AfD glücklicherweise nur bei 9 Prozent.

Die beliebteste Politikerin ist nach wie vor Angela Merkel, gefolgt von Markus Söder und Olaf Scholz. Die öffentlich viel gescholtene Kanzlerkandidatur des Sozialdemokraten sehen 58 Prozent als Pluspunkt für seine Partei – selbst bei den AfD-Anhängern sind es noch 50 Prozent.

So also sieht es in Wahrheit aus.

Der Begriff „alternative Fakten“ (Unwort des Jahres 2017) wurde übrigens von der Trump-Beraterin Kellyanne Conway geprägt, als sie die Behauptung in die Welt setzte, zur Amtseinführung ihres Chefs vor dem Kapitol seien mehr Menschen gekommen als zu der seines Vorgängers Obama – obwohl Luftaufnahmen und Zählungen des Nahverkehrs das Gegenteil bewiesen. Als sie in einer Fernsehsendung auf diese Unwahrheit hingewiesen wurde, antwortete sie: „Sean Spicer, unser Pressesprecher, hat dazu alternative Fakten dargestellt.“

Man sieht also: Die Erfindung der „1,3 Millionen“ bei der Berliner Demo am 1.8.20 hat berühmte Vorbilder.

Inzwischen hat Frau Conway ihren Posten – mitten im Wahlkampf – aufgegeben: Sie wolle „weniger Drama, mehr Mama“, sich also wieder stärker um ihre Familie kümmern. Dies scheint mehr als notwendig: Ihre 15-jährige Tochter Claudia beklagte sich heftig auf Twitter, der Job ihrer Mutter habe ihr Leben ruiniert. Diese sei nur „egoistisch“, es gehe ihr ausschließlich um „Geld und Ruhm“, obwohl sie über Jahre gesehen habe, wie ihre Kinder litten.

Das wäre vielleicht auch ein allgemeiner Tipp für diejenigen, welche derzeit die Welt retten wollen: Sich wieder mehr um reale Menschen in ihrer Umgebung zu kümmern, vielleicht sogar Senioren oder Kinder.

Fest steht für mich jedenfalls: Die Alternative zu Fakten ist die Unwahrheit.

P.S. Damit es nicht zu trübsinnig wird, dazu einer meiner Lieblingswitze:

Zwei Zeugen Jehovas klingeln an der Tür einer alten Dame. Diese bittet die Besucher freundlich herein und serviert ihnen Tee und Kekse. Nach einigem Smalltalk fragt die Seniorin nach dem Anliegen der Gäste. Die schauen einander verlegen an, schließlich sagt einer der beiden: „Das weiß ich auch nicht genau – so weit sind wir noch nie gekommen."

Illustration: www.tangofish.de

Kommentare

  1. Robert Wachinger31. August 2020 um 15:32

    "Wir stehen kurz davor, auch den Satz des Pythagoras oder das Newtonsche Gravitationsgesetz als rein persönliche Meinung hinzustellen, die man glauben kann oder auch nicht."
    Hm, ich glaub, da bist du nicht so ganz auf dem Laufenden. Es geistert schliesslich schon geraume Zeit rum, dass z.B. die Gleichung "2 + 2 = 4" nur etwas ist, das der "weisse Kolonialismus" (oder so ähnlich) in seiner Arroganz der Welt und insbesondere den alternativen (nicht-weissen) Kulturen aufdrängen will.

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    1. Echt? War mir bisher völlig unbekannt.
      Aber ich bin ja auch kein Mathematiker.
      Daher vielen Dank!

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    2. Naja, als Mathematiker weiss ich (natürlich ;-) ), dass je nach zugrundeliegendem Zahlenbereich "2+2" auch 1 oder 0 sein kann ... (1 z.B. im "Restklassenkörper modulo 3", und 0 im "Restklassenring modulo 4") ;-)

      Googlesuche nach "Twitter 2+2 5" ergibt als ersten Link https://thepostmillennial.com/two-plus-two-does-not-equal-five-no-matter-what-twitter-says
      aktuell scheint mir die Welt immer rasanter zu einem Irrenhaus zu werden ...
      Wie gesagt, die Behauptung "2+2=4" ist unterdrückerisch ...

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