Kleiner machen, Leute!


Um es gleich zuzugeben: Das herrliche Gottfried Keller-Wortspiel verdanke ich einem Programm-Titel der „Münchner Lach- und Schießgesellschaft“ von 1967. Demzufolge erwarte ich nun wieder Urheberrechts-Expertisen diverser Kritiker…

Wurscht! Ich finde, diese Botschaft erhält angesichts des flächendeckenden Gejaules in der Tangoszene eine völlig neue Bedeutung:

Ogottogott, niemals mehr werden wir so tanzen können wie dereinst (wobei unklar bleibt, ob 2019 oder 1940 gemeint ist). So schallt es derzeit fast unisono durchs Tango-Internet.

Ich gestehe: Je öfter ich es höre, desto mehr komme ich ins Grübeln. Wie vor Corona? Mit all der Musik-Ideologie, dem ständigen Wichtiggetue selbsternannter Experten und Lordregelbewahrer, dem unerträglichen Gestreite ums korrekte Auffordern und die tänzerische Spurtreue?

Also, wenn ich ehrlich sein wollte, müsste ich lügen… das Virus hat mich noch einige Lichtjahre weiter von dem entfernt, was in erster Näherung unter „Tangoszene“ verstanden wird: Eine Branche, in der gefühlte „Zubehör-Lieferanten“ der gläubigen Masse all das verkaufen, was sie angeblich dem Tango näher bringt – und Gurus die Deutungshoheit darüber beanspruchen, was denn „authentischer Tango“ sei.

Erst gestern habe ich wieder eine Milonga erlebt, für die der Begriff „Subkultur“ wohl noch übertrieben wäre: Völlig privat, in kleinem Kreis, an einem See mit Badesteg, dessen grob gezimmerte Bohlen die Basis für einige vorsichtige Tangoschritte bildeten, inmitten von normalen Sommerfrischlern, und am Geländer zwei mir wohlbekannte Musikerinnen, welche – handgemacht und unplugged – die Tanzmusik lieferten: Am Schluss zum Sonnenuntergang, mit Blick aufs Wasser, „Over the rainbow“ und „Moon River“

"Trio Tango Varieté" - "Spiel noch einmal für mich, Habanero"

Kein Tango? Ach, Leute, lasst die Schubladen zu! Was bringt es aber, mit Menschen zu streiten, die eine Exel-Datei der 2000 vorschriftsmäßigen Tangotitel besitzen, nicht aber ein Gefühl dafür, was Musik auslösen kann? Die stattdessen lieber über Speicherformate und Koaxialkabel reden? Hertz statt Corazón…

Was mich gestern wieder faszinierte: Weitgehend legere Bekleidung statt Tangokostümierung – die Ritzen zwischen den Brettern des Stegs hätten Highheels auch schnell geschreddert – und es wurde weder ein Büfett aufgebaut noch ein Grill angeworfen. Eine Flasche Wasser und offene Ohren reichten, und ansonsten: halt einfach Tanzen.

Kulisse für "Over the Rainbow"

Als Paare bleiben vorwiegend die zusammen, welche auch gemeinsam erschienen sind. Nichts zu spüren von der seltsamen Spannung, die ich früher auf vielen Milongas erlebt habe – mit Cabeceo und anderen seltsamen Spielregeln, deren Befolgung noch vor einem halben Jahr oft genug zu Stress führte: wegen Corona kein Problem mehr. Fast könnte man dem Virus dankbar sein!

Ich will die schlimmen Folgen für manche Tangolehrer, Veranstalter, Musiker und auch Tanzende nicht herunterspielen. Nur: Tango war schon immer ein Minderheiten-Sektor. Man musste auch früher ziemlich optimistisch sein, um daraus einen Beruf zu machen, der das alleinige Einkommen sichert. Auffällig ist jedoch: So richtig dreckig geht es derzeit den Argentiniern – allgemein und noch mehr der dortigen Tangobranche. Doch davon ist hierzulande wenig zu hören – stattdessen jammert man umso mehr übers eigene Geschäft. Fast könnte man meinen: Bei der Rettung des „Tango-Weltkulturerbes“ hat man das Mutterland vergessen, auf das man sich doch früher dreimal täglich berief. Was für mich beweist: Überwiegend war es PR und keine echte Verbundenheit.

Bekanntlich habe ich mich schon seit Jahren fast komplett von großen Tangoveranstaltungen zurückgezogen. Für mich verkamen sie immer mehr zu einem Jahrmarkt der Eitelkeiten: Sehen und Gesehen werden wurden immer wichtiger, der Tanz verkam zu einem bisschen Getrappel auf vollgestopftem Parkett und zu ödem Mainstream-Humptata. Immer mehr wurde aus unserem Tanz eine Art gehobene Kaffeefahrt fürs angejahrte Publikum: Marathons, Festivals, Workshops, Urlaub und Kreuzfahrten, Pilgerreisen ins Tango-Mekka.

Für die Themaverfehlung war kein Anlass zu abseitig. Männer verkleideten sich als Kavaliere aus Großvaters Zeiten, und die Damen jeden Alters hatten sich am Ideal des röckeschwingenden Jungmädels zu orientieren. Gipfelpunkt waren Events, welche nicht mal die Argentinier kennen: Zu Encuentros wurde bekanntlich nur zugelassen, wer über die nötige Bekanntheit, das richtige Geschlecht sowie die linientreue ideologische Einstellung verfügte. Das toppte sogar SED-Parteitage!

Am stärksten unter die Räder geriet neben dem Tanz die Musik: Um die hatte sich das gemeine Volk nicht zu kümmern, da es ja EdO-zertifizierte DJs gab, welche nach selbsterfundenen Regeln auflegten. Alles andere galt als Todsünde. Daher passt heute das Musikwissen eines durchschnittlichen Milongabesuchers in einen Fingerhut. Und auch für die korrekte Tanzweise gab es Experten, welche entweder das Label „authentisch“ oder „gar kein Tango“ verteilten. Danach hatte man sich zu richten, wenn man nicht der kollektiven Verachtung anheimfallen wollte.

Seit Jahren plädiere ich für eine Rückkehr des Tango zu seinen wirklichen Wurzeln, zu kleinen, selbstorganisierten Practicas und Milongas, wo die Musik und das Tanzen wirklich noch im Mittelpunkt stehen. Die Wortführer der Szene hatten dafür nur Hohn und Spott in Form schnöseliger Provinz-Sprüche übrig: Wo liegt denn überhaupt Pörnbach?   

Seit Corona nun senden die vereinten Klugschwätzer auf reduzierter Lautstärke oder gar nicht mehr. Klar, sie können dem Plebs die glamourösen Events nicht mehr liefern, welche den Tango als gehobene Freizeitgestaltung, nicht als Leidenschaft möglich und käuflich machten. Daher mein Vorschlag: Wir Tänzerinnen und Tänzer sollten uns den Tango zurückholen. Dann wäre „Pörnbach“ keine Ortsangabe mehr.

Ich kann folglich nur immer wieder dazu auffordern: Es gibt doch viele, die ein Wohnzimmer, eine Terrasse oder eine andere geeignete Räumlichkeit selber zur Verfügung haben oder sich einen Zugang verschaffen können – und sei es der Badesteg an einem See. Derzeit fallen doch viele Events aus, da müsste es mehr Optionen geben als je zuvor!

Und keine Angst vor dem Auflegen! Dazu braucht man keine langwierigen Computer-Schulungen, wie man uns von „professioneller“ Seite einreden will. Was ich in 20 Tangojahren an Nulpen hinterm Mischpult mit kreuzlangweiligen Programmen erlebt habe, ist eh nicht zu unterbieten. Also, nur Mut: Auch mit einem halben Dutzend interessanter CDs kann man einen schönen Tangoabend gestalten. Und wenn ich eine Milonga besuche, bin ich stets neugierig auf die persönlichen Ideen und Vorlieben des DJ – abgefahren finde ich generell interessanter als eingefahren.

Ihr dürft beruhigt sein: Es werden genug Gäste kommen! Jeder von uns kennt doch etliche Menschen aus der Szene, die sich über eine private Einladung freuen – und wenn es gut läuft, werden sie es anderen weitersagen. Zu Corona-Zeiten darf man eh keine vollgestopften Tanzflächen riskieren. Und nützt die schönen Tage – tanzt draußen! Noch schöner: Finanzamt und GEMA dürfen ebenfalls draußen bleiben.

Was ich für den größten Vorzug des „Gesundschrumpfens“ halte: Der Tango würde für Menschen, denen es vorwiegend um eine Machtstellung geht statt ums Tanzen, zunehmend unattraktiv. Die ganzen „Tangoprinzessinnen“ und Hosentaschen-Ausbeuler wären wir damit los. Sie werden sich andere Beschäftigungen suchen, wo sie ihr Ego zelebrieren können – vielleicht in der Politik, als Sekten-Gurus oder (wenn nicht schon geschehen) Corona-Experten.

Warum also nicht ganz privat ein paar schöne Tänze erleben – möglichst zu einer interessanten und ungewöhnlichen Musik? Dazu muss man keine hundert Leute zusammentrommeln, im Gegenteil! Jetzt ist die Chance da wenn die Infektionskrise überwunden sein wird, dürfte der Rummel ansonsten wie gehabt weitergehen.

Wer sich zu groß fühlt, um kleine Aufgaben zu erfüllen, ist zu klein, um mit großen Aufgaben betraut zu werden“ – so Jacques Tati, der Meister des komischen Understatements.

Also: Machen wir es kleiner, Leute!

P.S. Das folgende Video kann sicher den Zauber des gestrigen Abends nur andeuten.
Für die Jüngeren: „Moon River“, getextet von Johnny Mercer und komponiert von Henry Mancini, erhielt 1962 den Oscar für den besten Filmsong. In der romantischen Komödie „Frühstück bei Tiffany“ interpretierte den Titel Audrey Hepburn.
Ein Fluss nahe der Heimatstadt Johnny Mercers (Savannah, Georgia) wurde nach dem Lied benannt.


Kommentare

  1. Ich hab mich ja schon vorher geärgert, dass ich es am Wochenende nicht an meinen Lieblingstanzort (den besagten Badesteg) geschafft habe, aber jetzt hoffe ich fast, dass das nicht zu viel "Werbung" war...
    Aber natürlich hast Du Recht, dass von den Eingefahrenen" eh keiner dort erscheinen würde...zum Glück!
    So können wir weiterhin wunderschöne Tangos im Sonnenuntergang genießen.
    Und ich sehe es tatsächlich als Vorteil von Corona, dass jetzt doch nach Alternativen gesucht wird, spontan draußen getanzt wird, und es immer mehr kleine Milongas gibt. Vielleicht löst sich ja Manches von selbst, weil die Eventmanager entweder die finanzielle Durststrecke nicht überstehen oder in Bereiche abwandern, wo sie mehr oder einfachere Verdienstmöglichkeiten sehen...die Hoffnung stirbt zuletzt.
    Jm2c
    Carmen Giera

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    1. Liebe Carmen Giera,

      ich habe bewusst keine konkreten Namen oder einen Ort genannt, zumal zur dortigen Milonga ja nur privat eingeladen wird. Aber die Insider wissen natürlich, was gemeint ist.

      Wirklich ein toller Ort, wenn er auch letzten Sonntag durch die Vielzahl der Badenden ziemlich überlaufen war. Aber so gab es viele Zaungäste, die meist sehr freundlich und interessiert wirkten.

      Ich glaube, es gäbe noch viele geniale Örtlichkeiten, wo man sich in kleiner Zahl zum Tango treffen könnte, gerade jetzt im Sommer. Hoffen wir, dass solche Initiativen immer häufiger werden!

      Danke für den Beitrag und herzliche Grüße
      Gerhard Riedl

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