Freiheit die Zweite


Bekanntlich hat die Initiative „Querdenken 711“ für den kommenden Samstag unter dem Motto „Versammlung für die Freiheit“ eine Neuauflage ihrer Demonstration vom 1.8. angemeldet – seltsamerweise nur für 22000 Teilnehmer und nicht für 1,3 Millionen.

Die Berliner Versammlungsbehörde, der wohl noch der vorherige Rummel in den Knochen steckt, hat den Aufmarsch verboten. Begründung: Eine Beachtung der Corona-Regeln sei nicht zu erwarten. Der grundgesetzlich bestimmte Schutz von Leib und Leben gehe der – ebenso mit Verfassungsrang versehenen – Versammlungsfreiheit hier vor.

Der gigantische Proteststurm aus den betroffenen Kreisen war absehbar, ebenso das folgende Ritual: Die Veranstalter haben dagegen im Eilverfahren das Verwaltungsgericht angerufen, dessen Entscheidung wird die unterlegene Partei voraussichtlich nicht akzeptieren und dagegen beim Oberverwaltungsgericht vorgehen. Durchaus möglich, dass es bis Samstag auch noch einen Spruch des Bundesverfassungsgerichtes geben wird.

Da die Entscheidung der ersten Instanz spätestens morgen vorliegen dürfte, habe ich mich beeilt, noch vorher eine eigene Einschätzung zu versuchen.

Wie stets in der Juristerei bietet ein Blick ins Gesetz mehr Klarheit. Die entsprechende Formulierung des Artikels 8 Grundgesetz dürfte allgemein bekannt sein:  

(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.
(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.

Dies ist im Versammlungsgesetz geregelt. Dessen hier einschlägige Bestimmungen habe ich einmal zusammengesucht und die entscheidenden Passagen rot hervorgehoben:
  
§ 2  (2): Bei öffentlichen Versammlungen und Aufzügen hat jedermann Störungen zu unterlassen, die bezwecken, die ordnungsgemäße Durchführung zu verhindern.

§ 5:  Die Abhaltung einer Versammlung kann nur im Einzelfall und nur dann verboten werden, wenn (…)
3. Tatsachen festgestellt sind, aus denen sich ergibt, dass der Veranstalter oder sein Anhang einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf der Versammlung anstreben,
4. Tatsachen festgestellt sind, aus denen sich ergibt, dass der Veranstalter oder sein Anhang Ansichten vertreten oder Äußerungen dulden werden, die ein Verbrechen oder ein von Amts wegen zu verfolgendes Vergehen zum Gegenstand haben.

§ 6 (1) Bestimmte Personen oder Personenkreise können in der Einladung von der Teilnahme an einer Versammlung ausgeschlossen werden.
(2) Pressevertreter können nicht ausgeschlossen werden; sie haben sich dem Leiter der Versammlung gegenüber durch ihren Presseausweis ordnungsgemäß auszuweisen.

§ 7 (…): (4) Der Leiter übt das Hausrecht aus.

§ 8: Der Leiter bestimmt den Ablauf der Versammlung. Er hat während der Versammlung für Ordnung zu sorgen. Er kann die Versammlung jederzeit unterbrechen oder schließen.

§ 10: Alle Versammlungsteilnehmer sind verpflichtet, die zur Aufrechterhaltung der Ordnung getroffenen Anweisungen des Leiters oder der von ihm bestellten Ordner zu befolgen.

§ 11 (1): Der Leiter kann Teilnehmer, welche die Ordnung gröblich stören, von der Versammlung ausschließen.
(2): Wer aus der Versammlung ausgeschlossen wird, hat sie sofort zu verlassen.

§ 13: Die Polizei (…) kann die Versammlung nur dann und unter Angabe des Grundes auflösen, wenn (…)
2. die Versammlung einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nimmt oder unmittelbare Gefahr für Leben und Gesundheit der Teilnehmer besteht,
4. durch den Verlauf der Versammlung gegen Strafgesetze verstoßen wird, die ein Verbrechen oder von Amts wegen zu verfolgendes Vergehen zum Gegenstand haben, oder wenn in der Versammlung zu solchen Straftaten aufgefordert oder angereizt wird und der Leiter dies nicht unverzüglich unterbindet.

§ 15: Die zuständige Behörde kann die Versammlung oder den Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist. (...)
(3) Sie kann eine Versammlung oder einen Aufzug auflösen, wenn sie nicht angemeldet sind, wenn von den Angaben der Anmeldung abgewichen oder den Auflagen zuwidergehandelt wird.

Was lässt sich daraus für den vorliegenden Fall ableiten?

Versammlungen zu verbieten muss stets eine Einzelfallentscheidung sein – wenn geringere Mittel (z.B. Auflagen, anderer Ort) ausreichen, geht der Verfassungsrang der Demonstrationsfreiheit vor.

Einen Ansatzpunkt sehe ich in der Besorgnis, dass es aus dem Ruder laufen könnte. Bekanntlich ist das Verhältnis vieler Teilnehmer davon geprägt, dass sie sich vom Staat gar nichts sagen lassen wollen. Schon jetzt werden Stimmen laut, man werde auf jeden Fall demonstrieren, Verbot hin oder her.

Wird voraussichtlich zu Straftaten aufgerufen? Na ja, wenn man darunter die Entschlossenheit versteht, sich nicht an die Corona-Verordnungen halten zu wollen, könnte man dieser Ansicht sein. Sind das dann nur Ordnungswidrigkeiten oder schon Vergehen?

Die sonstigen, sehr breit gestreuten Einstellungen der Teilnehmer sind hier nicht von Bedeutung – man darf natürlich auch dafür demonstrieren, dass die Erde eine Scheibe ist oder Bill Gates das Chippen der Menschheit verboten werden soll. Quatsch ist nicht verfassungswidrig.

Andererseits ist es aber auch ein Scheinargument, man könne ja nichts dagegen machen, dass beispielsweise Rechtsextreme sich beteiligen. Schon bei der Einladung zur Veranstaltung hätte der Organisator die Möglichkeit, bestimmte Personen oder Gruppierungen auszuschließen (§ 6 / 1 VersG). Oder sie wenigstens noch später rauszuschmeißen (§ 11 VersG). Wenn die Organisatoren das nicht tun, müssen sie sich den Vorwurf gefallen lassen, dass ihnen Neonazis auf ihrer Demo zumindest egal sind.

Auch die Gefahr für Leben und Gesundheit der Teilnehmer wird im Versammlungsgesetz ausdrücklich angesprochen. Bei einem Ablauf wie vor vier Wochen sind Corona-Infektionen geradezu unausweichlich. Auch das könnte ein wirksamer Verbotsgrund sein.

Und übrigens ist die Berichterstattung der Presse bei Demonstrationen völlig frei - Journalisten benötigen keine Akkreditierung" des Veranstalters (§ 6 / 2 VersG).

Mit der rechtlichen Würdigung dieser Frage betreten Gerichte zweifellos Neuland. Es geht ja nicht darum, dass bei dieser Demonstration die Abschaffung der Corona-Beschränkungen gefordert wird. Das wäre völlig unproblematisch. Hier aber will man die Forderung sogleich in die Praxis umsetzen, indem man sich über diese Regeln hinwegsetzt. Das wäre, übertrieben gesagt, fast so, als demonstriere man für die Todesstrafe und würde sich die Freiheit herausnehmen wollen, bei der Demo gleich einmal eine Hinrichtung vorzunehmen. Darin sehe ich den Dreh- und Angelpunkt des rechtlichen Problems.

Aber ich bin kein Jurist und schon gar kein Verfassungsrechtler. Aber man kann ja dennoch mal im Gesetz nachschauen und darf sich eigene Gedanken machen.

Auf die Entscheidung der Gerichte darf man gespannt sein. Möglicherweise wird man die Demonstration unter vielen Auflagen zulassen, welche dann aber vorhersehbar kaum eingehalten werden. Also landet der Schwarze Peter bei der Polizei, welche in der Folge per samstägliche Überstunden das Ganze wieder auseinandertreiben soll, was wahrscheinlich nur ansatzweise gelingen wird – siehe: „Deeskalation“ und „Verhältnismäßigkeit“... Und die Drahtzieher haben den Staat wieder mal am Nasenring durch die Manege geführt…

Das Verhältnis dieser Herrschaften zum Rechtsstaat ist schon lecker: Man demonstriert angeblich für Freiheiten und Grundrechte, bemüht die Gerichte, kündigt aber schon mal an, dass man sich über deren Entscheidungen hinwegsetzen würde. Vereinzelt wird auch schon über Gewalt beim „Sturm auf Berlin“ geredet.

Der AfD-Abgeordnete Hansjörg Müller erklärte ZDFheute: „Fahren wir jetzt erst alle nach Berlin und beenden den Staatsstreich der Regierung."

Motto: Der Staat soll uns unsere Rechte geben, ansonsten kann er uns mal.


Weitere Quellen:
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-08/querdenken-711-berlin-corona-demo-verbot-einspruch-verwaltungsgericht

Kommentare

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