Tanzende DJs?

In einer Facebook-Gruppe für DJs findet sich eine Frage zu einem sehr interessanten Thema:

„Wir wissen alle, dass einige DJs während der Milonga tanzen. Ich möchte nicht über Vor und Nachteile sprechen, aber vielleicht ist es interessant zu wissen, ob dieses Phänomen wächst und was das für die Zukunft bedeutet.

Ich war absolut überrascht, einen DJ in Buenos Aires zu sehen, der hauptsächlich auf einer ganz traditionellen Milonga (El Beso) getanzt hat.

Ist das der Beginn einer neuen Entwicklung oder nur das Verhalten einiger weniger?“

https://www.facebook.com/groups/TangoDJForum/permalink/3199251630242016

Die Antworten fallen unterschiedlich aus. Eine Mehrheit scheint aber nicht abgeneigt, zumindest hin und wieder mal aufs Parkett zu gehen.

Aufschlussreich finde ich die Formulierung der Frage: In DJ-Kreisen scheint man mehr auf den Trend zu achten als eigene Entscheidungen zu treffen.

Bis vor einigen Jahren kannte ich nur sehr wenige DJs, die auch mal aufs Parkett gingen. Auf konservativen Milongas – gerade, wenn Argentinier auflegten – war es die absolute Rarität. Die Herren (Frauen waren sehr selten) saßen wie angetackert hinter ihrer Anlage, wo sie aßen, tranken, im Internet surften und E-Mails schrieben – oft vor der Außenwelt mit Kopfhörern geschützt.

Dabei hörte sich das gebotene Musikprogramm nicht so an, als sei es spontan entstanden. Meist war es gut abgehangene EdO-Sülze in vertrauter Zusammenstellung.

Inzwischen tut sich da mehr – oder liegt es daran, dass ich historische Tangoabende kaum noch besuche? Bei einigen DJs habe ich den Eindruck, ihr Auflegen sei von tatsächlichen spontanen Einfällen beeinflusst – was leider die Qualität des Gebotenen nicht verbessern muss.

Ich bin jedenfalls sicher: DJs, welche selber nicht tanzen, tun das nicht, weil sie sich unablässig um die Musik kümmern müssen. Die spielt im heutigen Tango eh eine geringe Rolle. Vielmehr ist das DJ-Pult oft ein Refugium, um kaum noch aufs Parkett zu müssen. Zudem erhöht es, wie bei Singvogel-Männchen im Frühjahr auf hohen Bäumen, das Renommee bei den Weibchen.

Da ich ganz „altmodisch“ mit CDs auflegte, bestand meine Vorbereitung darin, vorher die entsprechenden Tonträger herauszusuchen – zirka anderthalbmal so viele, wie Milonga-Dauer vorgab. Auf jeder Hülle pappte ein Zettelchen mit einigen Nummern, die für mich in Frage kamen. Auswahl und Reihenfolge entstanden weitgehend spontan während der Veranstaltung. Nur die letzte Tanda war vorgeplant.

Im Pörnbacher Wohnzimmer schaffte ich es auf jeden Fall, mit allen Teilnehmerinnen einmal zu tanzen. Der Rest ergab sich je nach Situation.

Klar, Auflegen und Tanzen zusammen ist nicht ganz leicht. Man ist mit den Gedanken immer wieder bei der Playlist. Auf der anderen Seite: Wo sonst kann mal zur eigenen Lieblingsmusik tanzen?

Ich kenne natürlich den Einwand: Man dürfe nicht den eigenen Vorlieben folgen, sondern müsse für alle auflegen. Aber „alle“ kamen eh nicht nach Pörnbach. Ich versuchte halt, die Charakteristik der Musik zu variieren – langsam, schnell, lustig, emotional, sehr rhythmisch, romantisch oder mal depressiv. Gerne auch mal traditionell, oft aber aktuelle Produktionen.

Eine herzliche Bitte habe ich an die Gäste von Tangoveranstaltungen: Bitte labert den DJ nicht voll! Wenn er (hoffentlich) kein vorgefertigtes Programm abspielt, ist er stets mit einem Ohr und dem halben Hirn bei der Musik. Und er muss zum Umschalten schnell wieder zur Anlage. Was er euch bei Gesprächen antwortet, ist selten sehr intelligent!

Was ich aber überhaupt nicht nachvollziehen kann: Wenn DJs sich von selber zu Gästen setzen, um ihnen ein Ohr abzukauen. Wenigstens sie sollten sich doch auf die Musik konzentrieren!

In der heutigen Situation kann ich das Gedöns, das Tango-DJs um die Musikauswahl veranstalten, nicht wirklich verstehen. Die meisten Gäste einer durchschnittlichen Milonga kümmern sich wenig um die gebotenen Klänge – Hauptsache, sie hören sich, je nach Glaubensrichtung, nach den 1940er Jahren oder loungemäßig und nicht nach Tango an.

Mir sind öfters „Fehler“ passiert, weil ich „falsche“ Titel anwählte oder sogar die CDs verwechselte – und siehe da: Die meisten bewegten sich klaglos, ja vergnügt dazu. Da sollte man doch genügend Zeit haben, auch mal selber zu tanzen! Ein weiterer Vorteil: Wenn man sich gelegentlich seber um die Tanzfläche bewegt, passiert automatisch ein Soundcheck!

Aber leider sitzen an den Schaltpulten der Milongas Männer, bei denen es sich eher um Technikfreaks als um Tanzbegeisterte handelt. Die eigene Fantasie ersetzt man durch strenge Auflege-Regeln. Durch die Flucht zum DJ-Platz bleibt man dem Tango verbunden, muss aber nicht tanzen. Stattdessen kann man seine Technik-Gelüste befriedigen. Als Alternativen bieten sich die Rollen als Tango-Lehrkräfte oder Veranstalter. Die sieht man auf den Milongas auch kaum auf dem Parkett.

Das alles erscheint mir so logisch wie vegane Metzger

Das Schlusswort überlasse ich heute dem Kollegen Jochen Lüders, dem ich nicht nur hier Recht geben muss:

„Wenn du selber DJ bist, mach doch einfach mal folgendes Experiment. Spiele eine vorbereitete Playlist ab, aber erwecke den Eindruck als ob du ‚arbeiten‘ würdest, also konzentriertes Auf-den-Bildschirm-Starren, Kopfhörer über einem Ohr (‚vorhören‘), Maus-Schubsen etc. In Wirklichkeit machst du aber nichts, du lässt einfach nur deine Playlist laufen. Irgendwann fragst du die Leute, ob du ‚nur‘ eine Playlist abgespielt hast (‚kann ja jeder‘) oder ‚spontan‘ aufgelegt hast (‚große Kunst‘). Solange du keine primitiven ‚handwerklichen‘ Fehler gemacht hast (z.B. ein ‚falsches‘ Stück anspielen und nach wenigen Takten abbrechen und ein anderes spielen oder plötzlich nur noch Gotan Project), wird es im Normalfall keiner wirklich wissen. (…) Wenn dir spontanes Rumsuchen Spaß macht und du das Gefühl hast, den Leuten damit eine Freude zu machen, mach es gerne weiter. Wenn du es aber als stressig empfindest und es nur machst, weil du glaubst, es würde von dir erwartet, solltest du dich entspannen und, falls nötig, nur noch ein bisschen Theater spielen.“

https://jochenlueders.de/?p=15944

DJ-Katze

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