Die Tango-Kultur des Beleidigtseins
Meine Blog-Statistik zeigt mir ständig an, welche der knapp 2200 Artikel aktuell aufgerufen wurden – beispielsweise in den letzten 24 Stunden. Was mich besonders freut: Es sind im Tagesverlauf immer wieder andere Texte, teilweise fünf und mehr Jahre alt. Man scheint also am „Herumstöbern“ interessiert zu sein.
In vielen Fällen habe ich beim Lesen des Titels keine Ahnung mehr, was ich da eigentlich geschrieben habe. Also muss ich selber nachsehen. Vieles finde ich dann immer noch sehr lustig und interessant – na ja, und manches würde ich heute anders darstellen. Und wenn mir ein Text überhaupt nicht mehr gefällt, lösche ich ihn auch mal.
So stieß ich heute auf den Artikel „Tango im Märchenwald“, in dem ich das Marketing eines bekannten Tangolehrerpaars durch den Kakao zog. Von den hohen Herrschaften erhielt ich natürlich keine Reaktion – klar, einen Paria wie mich straft man mit Nichtbeachtung!
Man muss aber auch in den Kommentaren sehr darauf achten, was man antwortet. Gelegentlich kann man dabei einen wüsten Proteststurm entfachen.
So gefiel einem Leser meines Beitrags mein „Bashing“ nicht. Dummerweise driftete er dann auf ein anderes Thema ab:
„Aber ich würde den Fehler im System nicht nur bei den Semiprofessionellen suchen, sondern auch bei den nicht mehr ganz jungen oder besser sehr, sehr mittelalten Frauen und Männern, deren hedonistische Dampfmaschine man ja nur ein bisschen antippen muss, damit ein Feuerwerk an erotischer Phantasie entzündet wird. Ich selbst bin ein übergewichtiger, auch sehr sehr mittelalter Provinztänzer. Meine Chancen auf dem Markt der Eitelkeiten sind so überschaubar wie eine Prachtallee in Pjöngjang.“
Zweifellos sehr nett formuliert. Vielleicht deshalb stach mich der Hafer:
„Sie sprechen ein interessantes Thema an, bei dem ich Ihnen weitgehend Recht gebe: den Einmarsch der Rentnerinnen und Rentner im Tango. Ich habe den selber ab zirka 2005 erlebt. Tänzerisch bedeutete dies den Umschwung von ‚Was geht alles?‘ zu ‚Geht das überhaupt?‘. Plötzlich sah man auf den Milongas zunehmend arthrotisches Herumgedackel. Da die damalige Subkultur-Szene äußerst liberal eingestellt war, nahmen wir diese Tendenz als spaßige Zugabe hin. Heute weiß ich: Wir hatten dieses Volk mit einer Überdosis Piazzolla in die Flucht schlagen sollen.
Klar, diese Population brauchte vieles, auf das wir bis dahin eher verzichten konnten: feste Regeln, jede Menge Unterricht und einfache, überschaubare Musik. Später dann auch Tangobälle, Festivals, Tangoreisen, gestreifte Hosen für den Herrn und Püppi-Ausstattung der Damenwelt. Zusätzlich wichtig: die Anmutung von Exklusivität.“
Ich finde, das ist doch heute aktueller denn je!
Da bekam ich umgehend von einer Leserin, drei Jahre älter als ich, kräftig Mores gelehrt: Eine „Herabwürdigung“ und „Beleidigung“ sei das!
„Was soll das? Für wen halten Sie sich eigentlich? Tango ist eine Privatangelegenheit! Da muss man sich öffentliche Kommentare dieser Art wirklich nicht gefallen lassen. Gibt es eigentlich irgendjemanden hier, der oder die Ihre ‚Wohnzimmermilonga‘ gut findet? Außer Eigenlob habe ich diesbezüglich noch nichts gelesen.“
Als sich daraufhin per Kommentar einer unserer Besucher meldete, war der Dame „der eine Fan“ natürlich nicht genug.
Dann kam das Argument, das ich inzwischen rauf und runter kenne:
„Der Besuch einer
öffentlichen Veranstaltung ist und bleibt meine Privatangelegenheit. Oder
schreiben Sie die Rechtslage neu? Sie können also gerne die Veranstaltung
kritisieren, nicht aber die Gäste!
Und natürlich fühle ich mich bei Ihrer ‚Kritik‘ persönlich angesprochen und
beleidigt – ich gehöre ja in diese Gruppe. Wenn Sie wenigstens geschrieben
hätten, wen Sie meinen – haben Sie aber nicht.“
O Schreck – welchen Ärger hätte ich erst gekriegt, wenn ich eine Person namentlich genannt hätte…
Meine Kritiker sind da weniger zimperlich – da geht es mit vollem Namen auf die Knochen:
„Gerhard Riedl ist kein Tangolehrer. Kein Tänzer. Kein DJ. Er ist ein Kritiker ohne Haltung, ein Meinungsmacher ohne Maß, ein Blender mit Tastatur – oder wie man ihn auch nennen kann: die schreibende Tango-Wurst Deutschlands.“
Klar, von der „Beleidigungskultur“ des Internets kriegt man als Tangoblogger glücklicherweise nur ein laues Lüftchen mit.
„Eine Studie des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft (2019) verdeutlicht: Hate Speech im Netz zieht Einschüchterungseffekte nach sich.[4] Diesbezüglich wird auch vom Effekt des sogenannten ‚Silencing‘ (zu Deutsch: Verstummen) gesprochen. Aus Angst vor Hasskommentaren und heftigen Hassreaktionen bekennen sich Internetnutzer*innen seltener zu ihrer politischen Meinung/Einstellung (Geschke et al., 2019, S. 5). Folglich reduziert sich die Meinungsvielfalt im Netz, wodurch auch das gesellschaftliche Meinungsbild verzerrt wird (vgl. ebd.). Ohne kritische Gegenstimmen, die den Beiträgen von Hassredner*innen entgegengestellt werden, kann leicht der Eindruck entstehen, dass die in den Hasskommentaren vertretene Haltung dominiert bzw. der gesellschaftlichen Mehrheitsmeinung entspricht. Dies kann wiederum Einfluss auf die persönliche Meinungsbildung nehmen.“
Was ich aber durchaus schon bemerkt habe: Wer mir öffentlich zustimmt, kriegt Ärger. Und seit längerer Zeit tut eine kleine Gruppe von Kritikern durch gegenseitiges Schulterklopfen so, als sei die ganze Tangowelt gegen mich. Ich erlaube mir, dies für Unsinn zu halten.
Inzwischen tut man sich mit dem Einstellen von bösartigen Sprüchen auf meinem Blog schwerer. Ich hätte die Beschränkung von Kommentaren auf E-Mails schon viel früher vornehmen sollen.
Deutschland geht es zwar wirtschaftlich immer schlechter, dafür sind wir aber im Beleidigtsein Weltspitze. Ich kann damit gut umgehen: Wenn ein Trottel sich über meine Ansichten beschwert, spricht viel dafür, dass sie richtig sind.
Schreibt man eine Satire, die in einem Friseursalon spielt, darf man mit einer Protestnote des Bundesverbands der Haarschneider rechnen. Inklusive Shitstorm dauergewellter Aktivist*innen.
Der Kabarettist Vince Ebert sagt dazu:
„Wir leben in einer unfassbar verklemmten, spießigen Biedermeier-Zeit. Jeder Halbsatz wird moralisch aufgeladen, weil irgendjemand denkt und Angst hat, dass irgendjemand in seinen Gefühlen verletzt werden könnte. Weil wir besessen von unseren eigenen Befindlichkeiten sind.“
https://www.youtube.com/watch?v=xK_yyuxoDJ8
Ebert will bis Ende 2026 sein laufendes Programm spielen und dann diese Tätigkeit beenden. Theater, die ihn auftreten ließen, gerieten immer mehr unter Druck: „Es liegt nicht an den Irren, die sich melden, sondern an denen, die auf sie reagieren“.
Führungskräfte aus Wirtschaft und Politik gäben ihm zwar unter vier Augen recht, trauten sich aber nicht, das öffentlich zu äußern: „Wenn es hart auf hart kommt, lassen die einen über die Klinge springen.“
Ebert ist fast 18 Jahre jünger als ich. Er meint: „Ich will nicht die nächsten fünf Jahre durch Talkshows gehen und immer dasselbe sagen.“
Nach über 12 Jahren Bloggen sage ich: Doch, genau das muss man! Steter Tropfen höhlt den Stein. Gerade in einer Gesellschaft, in der abweichende Ansichten skandalisiert werden. Im Biedermeier des Beleidigtseins.
Daher werde ich noch ein wenig weitermachen.
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| Illustration: www.tangofish.de |

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