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„Wir sind alle Individualisten“ – „Ich nicht…“ (Monty Python: „Das Leben des Brian“)
Ich habe nie gedacht, dass ich mal so alt werde! Als Richtung Schulzeit aus einem blondgelockten Dickerchen ein hoch aufgeschossenes, dürres Klappergestellt wurde, spulten die Ärzte bei meinem Anblick stets ganze Serien von Befunden ab. Insbesondere meine Platt-, Knick-, Senk-, Spreiz- und Wasweißichnoch-Füße hatten es den Medizinern angetan. Dass nun – fast 70 Jahre später – Tangoexperten die Aktionen meiner unteren Körperenden bemängeln, kommt also reichlich spät.
Irgendwie fremd kam ich mir nicht erst in der heutigen Tangoszene, sondern schon in sehr jungen Jahren vor: Schließlich gehörte meine Familie zu den damaligen Migranten, da sie nach Kriegsende aus dem Sudetenland nach Bayern vertrieben wurde. Beliebt waren die „Flüchtlinge“ auch damals nicht, obwohl sie weitestgehend darauf verzichteten, Einheimische mit dem Messer anzugreifen.
Die Kombination von guten Schulnoten, Unsportlichkeit und fremder Herkunft kam bei den Gleichaltrigen nicht besonders an. In den ersten Schuljahren wurde ich heftig gemobbt – nur galt das damals eher als natürlicher Reifungsprozess denn als Schädigung der kindlichen Seele. Ich spielte meist lieber allein, was meine Fantasie, nicht aber die sozialen Bindungen stärkte.
Am Gymnasium, wo eher der schlaue Kopf statt der dicken Faust galt, wurde es dann besser. Ich näherte mich aber bedrohlich der ganzheitlichen Verkopfung.
Der erste Tanzkurs war für mich eine Art „Zeitenwende“: Endlich hatte ich eine Beschäftigung gefunden, bei der ich meinen Körper positiv erlebte! Bei der man mehr fühlen statt denken konnte. Das ist bis heute so geblieben. Und ich fand schließlich eine Frau, die meine Leidenschaft teilt. Dafür kann ich ihr nicht genug dankbar sein!
Nach den Vorstellungen meines Vaters hätte ich Bahnbeamter oder Friseur werden sollen. Dass ich als Erster in der Familiengeschichte ein Studium absolvierte, war keineswegs selbstverständlich.
Im Beruf galt ich eher als „strenger Lehrer“, weil ich keine Lust hatte, mich in der Schule abermals mobben zu lassen. Mit Sicherheit war ich einer, an den man sich lange erinnerte. Auch jenseits des dämlichen Oberlehrer-Klischees.
Der Tanz blieb in all den Jahren, mehr oder weniger intensiv, unser Begleiter – und auch sonst verlief unser Leben lange Zeit in vorhersehbaren Bahnen. Bis dann, in den späteren Jahren meiner Berufstätigkeit, nach dem Standardtanz plötzlich der Tango auftauchte. Die Möglichkeit, sich „frei“ zu bewegen, faszinierte uns – und auch die Musik, welche so viele Schattierungen, Nuancen und Empfindungen bot.
Im Lauf der Zeit ergaben sich Ereignisse, die für mich nicht vorhersehbar waren: Eine Krebserkrankung mit der Aussicht, vielleicht nicht mehr tanzen zu können, führte zu meinem Tangobuch, das mich plötzlich in einen Wirbel von Lob und heftiger Kritik katapultierte. Ich lernte, wozu Menschen fähig sind, wenn sie sich im anonymen Netz herumtreiben, den „Feind“ nicht von Angesicht zu Angesicht begegnen – ja eigentlich kaum etwas von ihm wissen.
Meiner Freundin Manuela habe ich es zu verdanken, dass sich mir die Möglichkeiten des Internets erschlossen – was im Endeffekt zu einem Blog mit inzwischen fast 2200 Beiträgen führte. Ich hätte nie geahnt, dass meine Leidenschaft zu schreiben einmal solche Ausmaße annehmen würde!
Glaubt man meinen Kritikern, machte mich das zur bestgehassten Person in der Tangoszene. Doch was man nicht verbergen kann, muss man ausstellen – so jedenfalls der auch nicht überall beliebte Harald Schmidt. Statt mich verschämt zurückzuziehen, nahm ich die Rolle des Bösewichts an. In der Harmonie einer größeren Gruppe habe ich mich sowieso nie wohlgefühlt – mir reichten stets Paarbeziehungen wie im Gesellschaftstanz. Von Religionen gar halte ich heute wenig – ob in der Kirche oder auf dem Parkett.
Habe ich vom Tango zu viel erwartet? Mag sein. Uns versprach er damals den Aufbruch in neue tänzerische Freiheiten. Inzwischen wird er dominiert von Leuten, welche gerne Regeln aufstellen – die Ochos und Boleos mit dem Zollstock ausmessen. Unser Tanz ist unglaublich kleinbürgerlich geworden, ein Hort hochnäsigen Expertentums und verkniffener Rechthaberei, getarnt als schielende Frömmigkeit. Es gibt zu viele Menschen, die erst aufleben, wenn sie Vorschriften erfinden können – ob zur korrekten Heizanlage oder zu der Einhaltung von Tanzspuren.
Man soll aber nicht ungerecht sein: Man findet, wenn man lange genug sucht, schon noch ein paar Ecken, in denen sich Reste des Tangogefühls von einst gehalten haben. Fast alle dort arbeiten nicht kommerziell, sondern investieren viel unbezahlte Zeit, oft auch Geld in ihre Leidenschaft. Und sie bringen einen großen Packen Liberalität mit. Das ist nicht hoch genug zu würdigen.
So lange es noch geht, wird man mich dort finden. Nach einigen Krankenhaus-Aufenthalten gelingen mir inzwischen wieder Tandas mit drei oder sogar vier Stücken. Und auch meine Kardiologin konnte ich inzwischen davon überzeugen, dass es mir besser geht als manche Messgeräte und Laborwerte anzeigten. Vielleicht habe ich die guten Gene von meinem Vater geerbt, der viereinhalb Jahre russische Kriegsgefangenschaft überstand und 94 wurde.
Ich schreibe das auch deshalb, weil ich zahlreiche Tänzerinnen in diesem Jahr sitzen lassen musste – nicht aus Überheblichkeit, sondern weil ich meine geringen Kräfte nur für wenige Tänze reichten. Aber es geht wieder aufwärts.
Auf die Sache mit dem Blog kam ich nicht selber, sondern durch einen Tipp meiner genialen Illustratorin Manuela, die mir in diese digitale Welt half. Dass es im Lauf der Jahre so viele Buchauflagen und und Blogtexte werden würden, hätte ich nie geahnt.
Natürlich durfte ich auch dabei erfahren, dass ich eigentlich alles falsch mache – oder ich mir, wie es einer meiner Kritiker so schön ausdrückte, „ins eigene Knie schießen“ würde. Schon früh lernte ich es aber, mein „eigenes Ding“ zu machen. Auch der Tango leidet daran, dass es zu viele Kopien, aber nur wenige Originale gibt.
Die Musik von einst höre ich – außerhalb des Pörnbacher Wohnzimmers – nur noch selten. Beispielsweise, wenn sie die beiden Damen vom „Duo Tango Varieté“ spielen. Was Bettina am Akkordeon und inzwischen auch gesanglich bietet, fasziniert mich immer wieder – mal ganz abgesehen von der „besten Ehefrau von allen“…
Heute Nachmittag soll es im Wohnzimmer einen Geburtstags-Tango geben. Für mich das schönste Geschenk überhaupt!
Ich werde nicht aufhören, darauf hinzuweisen, was halt auch Tango ist – wozu man ebenfalls tanzen könnte. Auch wenn die große Mehrheit sich lieber mit „Spurtreue“ befasst – nicht nur auf dem Parkett, sondern auch geistig. Vieles in der Tango-Sekte muss man inzwischen glauben – hinterfragen unerwünscht. Auch viele Unangepasste von einst sind inzwischen brav und fromm geworden oder haben sich gänzlich vom Tango zurückgezogen.
In meinem Alter muss es erlaubt sein, an Geburtstagen ein wenig larmoyant zu werden. Daher habe ich mir ein Chanson von Reinhard Mey ausgesucht, von dreien, die früher gänzlich rebellisch die Welt veränderten wollten, die Anarchie feierten – „Drei Musketiere“ halt. Doch es kam anders:
„Die Zeit hat uns
getrennt
Verstreut an alle Enden
Du, Aramis, magst heut
Bahnhofsvorsteher sein.
Du, D'Artagnan, zählst heimlich
Deine Dividenden
Ich, Portos, sitze heut'
An unsrem Tisch allein.“
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