Kurse und Lernfabriken
In meinem Artikel „Namen und Gesichter“ habe ich eine Schwäche beschrieben, die ich offenbar mit meinem Kollegen Peter Ripota teile: Sich nur schwer Namen – in Bezug zu den jeweiligen Gesichtern – merken zu können.
Im Lehrberuf, so gab ich zu, sei es desaströs, wenn man sich nur per Sitzplan durchhangeln könne.
Ein Tangolehrer, der sich – wie manche seiner Kollegen (absichtlich nicht gegendert) – wohl als Pädagogik-Profi sieht, musste auch hierzu eine klare Analyse erstellen:
„Soll
man Riedl daraus Nachlässigkeit unterstellen? Eigentlich nicht. Aber vielleicht
doch ein gewisses Desinteresse an den Persönlichkeiten seiner Schüler. Wie will
man in Zeugnis-Konferenzen faire Beurteilungen abgeben, wenn man die Gesichter
und Namen kaum noch zuordnen kann? Zählen also nur die Klassenarbeiten?
Eine Frage, die sich Riedl selbst stellen müsste. Pädagogisch mag er ein
solider Lehrer gewesen sein – menschlich aber scheint er Distanz gepflegt zu
haben, wo Nähe gefordert gewesen wäre.“
https://tangoblogblog.wordpress.com/2025/12/08/namen-merken/#comments
Gut – nun will ich bei jemanden, der mich seit Jahren mit meist bitterbösen Kommentaren eindeckt, nicht von „Nähe“ sprechen. Aber ein wenig Realismus könnte bei dem Thema nicht schaden. Daher geht es nicht ohne ein paar Zahlen:
Unterrichtet man wissenschaftliche Fächer, beträgt die Pflichtstundenzahl an bayerischen Gymnasien 23 Wochenstunden. In meinen Fächern gab es Klassen, die ich nur eine Stunde pro Woche sah, normal waren in Biologie zwei, in Chemie und in Grundkursen der Kollegstufe drei, nur in den damaligen Leistungskursen sechs. Überstunden bei Erkrankungen von Kollegen oder Vertretungsstunden (bei denen man die Klassen meist gar nicht kannte) kamen noch dazu.
Als Referendar musste ich mal eine Klasse mit über 40 Schülerinnen und Schülern übernehmen – normal waren mindestens 25. Im regulären Unterricht sah ich eine Klasse oder Kurs also im Schnitt zirka 2,5 Stunden pro Woche. Bei 23 Wochenstunden hatte man pro Schuljahr also gut 9 Klassen bzw. Kurse. Mal 25 ergibt das zirka 225 Schülerinnen und Schüler pro Schuljahr.
Da wünsche ich schon mal fröhliches Namen-Merken! Junge Kolleginnen und Kollegen versuchten, das mit Fotos auf dem Sitzplan zu bewältigen. Ich rate davon ab: Datenschutz…
Was der Kollege über „Klassenkonferenzen“ zusammenfabuliert, ist leider ziemlich irreal. Der normale Schüler kam da lediglich als Statistik vor. Es ging dort fast nur um problematische Kandidaten, bei denen das Vorrücken gefährdet oder ausgeschlossen war. Und die paar Leute hatte man schon ziemlich gut im Gedächtnis. In meiner gesamten Dienstzeit habe ich selber genau zwei Schüler durchfallen lassen, wo also meine Fünf ausschlaggebend war. Sechser im Zeugnis (schon damals eine wahre Kunst) habe ich nie verteilt.
Und ja, in der Schule zählen Noten – schriftliche und mündliche – unabhängig davon, ob ein Schüler kooperiert oder eine Nervtöte ist. Wer dieses System ändern will, möge es begründen – und sich notfalls dann von einem Arzt mit solider Halbbildung behandeln lassen!
Gymnasien mit oft mehr als 1000 Schülerinnen und Schülern stellen „Lernfabriken“ dar, durch die heute immer größere Zahlen von Kindern und Jugendlichen geschleust werden. Persönliche Zuwendung ist höchstens im Einzelfall möglich. Und sie wird einem nicht immer gedankt. Teilweise verlangen Eltern einen Service, der schlicht nicht leistbar ist – wissen jedoch immer besser, wie Schule wirklich ginge.
Selber aber möchte man diesen Beruf lieber doch nicht ergreifen. Der heutige Lehrermangel basiert vor allem darauf, dass man Berufsanfängerinnen und Anfänger schlicht überfordert: Sie kriegen die größten Klassen und jede Menge Zusatzaufgaben. Und finden oft katastrophale Arbeitsbedingungen vor. Hier ein Artikel, der – wie viele andere – die Absurditäten beschreibt:
Viele Abiturientinnen und Abiturienten beginnen erst gar kein Lehramtsstudium oder steigen früher oder später aus – trotz des relativ anständigen Gehalts, der Unkündbarkeit und der späteren Pensionsansprüche.
Wer diese Situation mit Tangokursen von vielleicht 15 Mitgliedern vergleicht, hat eventuell alles Mögliche, aber keine Ahnung. Tango wollen viele unterrichten – da fehlt es eher an Schülern. Keine Lehrpläne, keine Prüfungen und Zeugnisse, kleine Klassen, und die Teilnehmenden kommen freiwillig. Ein pädagogisches Paradies!
Menschlich scheine ich in meinem Beruf Distanz gepflegt zu haben, wo Nähe „gefordert“ gewesen wäre, so mein Kritiker, Interessant finde ich schon einmal, dass man Nähe „fordern“ kann! Muss ich mir beim Tango merken…
Ich meine tatsächlich, dass man im Lehrberuf ohne eine gewisse Distanz schwere Schäden erleidet. Burnout ist der Hauptgrund vorzeitiger Pensionierungen.
Von Ärzten, Polizisten und Rettungssanitätern höre ich immer wieder, man dürfe die beruflichen Erlebnisse nicht mit nach Hause nehmen. Ich finde, dieser Rat ist dringend nötig!
Für Tangolehrer gilt vielleicht das Umgekehrte: Man sollte die häuslichen Verhältnisse nicht mit in den Beruf nehmen. Dann wäre schon vieles gewonnen.
Zum Thema noch ein sehr interessanter Bericht:
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