Namen und Gesichter
Mein alter Tangofreund und Autoren-Kollege Peter Ripota veröffentlicht jeden Sonntag einen Beitrag in der Kategorie „Notizen aus dem Schwarzen Loch“.
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In seinem aktuellen Text beschreibt Peter eine Schwäche, die uns beiden gemeinsam ist. Mit seiner freundlichen Genehmigung hier sein sehr amüsanter Text:
Meine Neurodiversität – Sie ist schrecklich, diese Behinderung
Nein, ich meine nicht meine Unfähigkeit, mir Namen zu merken, obwohl mich das schon öfter mal beruflich in Schwierigkeiten brachte. Als ich für eine große deutsche Elektrofirma arbeitete, sollte ich die Kunden mit Namen begrüßen und verabschieden. Ersteres gelang manchmal, letzteres nie. Einmal schrieb ich mir den Namen des Kunden auf einen Zettel und blickte 15 Minuten vor dem Abschied verstohlen auf ihn. Ein paar Mal, eigentlich immer wieder. „Wollen Sie wissen, wann Ihr Zug fährt?" erkundigte sich der Kunde schließlich mitleidsvoll. Ich sagte, das wüsste ich. „Warum schauen Sie dann dauernd auf den Fahrplan?".
Beim Tango ist es schon unangenehmer. Neulich fragten mich zwei nette Damen nach den Tänzen um den Namen. Um meinen, den wusste ich noch. Höflichkeitshalber fragte ich nach ihren Namen, die waren sofort meinem Gedächtnis entschwunden.
Immerhin, ich bin nicht die einzige Person mit diesem Defizit, das, wie es scheint, typisch für Naturwissenschaftler ist. Denn die merken sich jede Zahl, aber keinen Namen. Ist auch klar, warum. Naturwissenschaftler suchen nach allgemeingültigen Gesetzen, in denen eine Tatsache aus anderen logisch und sinnvoll abgeleitet werden kann. Zahlen sind sinnvoll, Namen willkürlich, warum also soll ich sie mit einer Person assoziieren, die genauso gut ganz anders heißen könnte?
Und auch diese Begegnung beruhigte mich ein wenig. Als ich eine flüchtige Tango-Bekanntschaft wiedersah, begrüßte ich sie freudig mit „Elisabeth!" „Nein, Isabella. Und du bist der Werner." „Nein, Peter." Doch der wahre Neuro-Mangel liegt darin, dass ich mir keine Gesichter merken kann. Das kann richtig peinlich werden, wenn ich nach einem Vortrag beim zwanglosen Beisammensein die Vortragende mit einer flüchtig bekannten Kollegin verwechsle. Beim Tango wird es wirklich unangenehm, wenn es dann heißt: Kennst du mich denn nicht mehr? (Heißt: Ich bin dir wohl nichts wert?) Oder: Du verwechselst mich mit einer anderen. (Ich bin dir also nichts wert.)
Wenigstens weiß ich jetzt, wie mein Defizit heißt: Prosopagnosie, auf Deutsch Gesichtsblindheit. Wenig beruhigend ist Wikipedias Behauptung: „Heilbar ist sie nicht … Die genetische Ursache der Krankheit ist noch unbekannt." Über die Auswirkungen der Unfähigkeit sagt Wikipedia: „Menschen mit Prosopagnosie werden von ihrem Umfeld häufig missverstanden. Da sie selbst vertraute Personen nicht erkennen und unbeabsichtigt ignorieren, gelten sie oft als gleichgültig, zerstreut, arrogant oder unsozial. Studien zeigen, dass Betroffene wiederholt als unfreundlich oder unhöflich wahrgenommen werden, was zu sozialem Rückzug und Vermeidungsverhalten führen kann.“
„Da die Störung wenig bekannt ist, werden Verhaltensweisen wie das Meiden von Namen oder das wiederholte Nachfragen nach Identitäten oft als Desinteresse oder soziale Unbeholfenheit fehlgedeutet."
In der Tat. Wenigstens treffen Symptome des damit verwandten Autismus auf mich nicht zu. Ich kann am Gesichtsausdruck meistens erkennen, ob mich jemand mag oder gleich das Messer zückt. Und noch etwas anderes beruhigt mich ein wenig, eine Pseudo-Erklärung, die aus dem Mangel eine Tugend macht:
Einer Bekannten im Tango vertraute ich meine Probleme an. „Das geht mir genauso", meinte sie. Der Grund: Auch sie war Mathematikerin, und Mathematiker sehen bekanntlich Ähnlichkeiten dort, wo andere nur Unterschiede wahrnehmen. Also Bahnhöfe statt Züge. Und weil Züge unter einem einzigen Begriff zusammengefasst werden, sind sie keine Individuen mehr, sondern Repräsentanten einer einzigen Gruppe. Eben ununterscheidbar, wie Elektronen. Aber Menschen sind keine Elektronen, eher schon Schneeflocken.
Der peinlichste Vorfall dieser Art, schon lange her, hat sich tief ins Gedächtnis der beiden beteiligten Personen eingeprägt. Es war bei einer lokalen Karnevalsveranstaltung, wo eine Gruppe junger Mädchen ihre Beine schwang. In der Pause – im Zuschauerraum blieb es weiterhin dämmrig – redete mich eines der Mädels an: „Hallo Peter!" In meiner höflichen und zurückhaltenden Art fragte ich: „Wer sind Sie und was wollen Sie?" „Ja ich bin's, die [Name ist der Redaktion bekannt], deine Tochter!"
Ich freue mich auf die Zeit, da Künstliche Intelligenz solche Situationen vermeiden kann. Hoffentlich werde ich das noch erleben …
Es ist bereits beim Tango peinlich, wenn man sich nicht mal die Vornamen von Tanzpartnerinnen merken kann. Im Lehrberuf ist das desaströs. Ich weiß noch, dass ich in meinem letzten Chemie-Leistungskurs für das gute Dutzend Teilnehmerinnen und Teilnehmer auch nach fast zwei Jahren noch einen Sitzplan benötigte.
Noch schlimmer war es bei Unterstufenklassen, wenn Mütter in der Sprechstunde ihren Sohn so beschrieben: „So ein kleiner Blonder mit Sommersprossen“. Leider half mir das keinen Millimeter weiter.
Herzlichen Dank an den Autor für die Beschreibung unserer gemeinsamen Schwäche!

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