Musikalisch tanzen?

Der geschätzte Kollege Klaus Wendel hat nun einen Artikel veröffentlicht, zu dem ich ihm nur gratulieren kann:

Musikalität vor Repertoire-Vielfalt“ nennt er den 37. Teil seiner „Gedanken zum Tango-Unterricht“. Da er darin etliche Illusionen schreddert, dürfte sich die Begeisterung der Lesenden in Grenzen halten. Aber das macht ja nichts: „Mit der Schule ist es wie mit der Medizin: Sie muss bitter schmecken, sonst nützt sie nichts“ heißt es in Heinrich Spoerls „Feuerzangenbowle“.

Ich versuche, einige seiner Gedanken wiederzugeben:

Musikalität werde im Unterricht häufig vernachlässigt – nicht aus Bosheit, sondern weil sie das schwierigste Thema im Tango sei.

Klar, zu ihrer Umsetzung gehört eine gewisse Figuren-Vielfalt – ich behaupte aber, dass auch mit einer überschaubaren Auswahl von Bewegungen musikalisch getanzt werden kann. Wahrscheinlich sogar besser, da man dann auf die Musik achtet und nicht auf die Umsetzung komplizierter Aktionen.

Musikalität, so der Autor, sei „kein Beiwerk und kein Luxus für Fortgeschrittene“. Sie rette den Tango vor dem „Absaufen im Repertoire“. Wohl wahr!

Technik sei Mittel, aber nicht Inhalt. Sonst werde die Musik „zum Hintergrundgeräusch“. Man lerne, was man tanzen könne, aber kaum wann und warum.

Musikalität setze eine gewisse technische Sicherheit voraus. Daher werde das Thema in den Kursen „nach hinten“ geschoben – bis irgendwann. Oder nie…

Diese Fähigkeit lasse sich schlecht in Kurse oder Wochenend-Workshops verpacken. Wird aber immer wieder versucht!

Und ja: Wenn überhaupt, muss man das Hören auf die Musik von vornherein zum Unterrichts-Thema machen. Sonst ersäuft der Tango in eingelernten Bewegungsabläufen. Gleichförmigkeit zu vermeiden sei ein wichtiger Ansatz. Nicht die Figur, sondern die Musik müsse der Maßstab sein. Man solle mit und nicht trotz der Musik tanzen.

„Auf Milongas zählt nicht, was man kann, sondern was man weglässt.“ Na ja, wenn der schöne Satz stimmen würde, hätten wir fast nur gute Tanzpaare…

Aber, wie gesagt, ein hoch interessanter Text, den ich wärmstens empfehle!

Selber muss ich mich wohl schuldig bekennen: In meinem Tangobuch habe ich auf zirka 50 Seiten versucht, „musikalisches Tanzen“ zu erklären. Ich meine auch heute noch, dass man darin nützliche Informationen findet. Doch ob man diese Fähigkeit dadurch erlernt? Ich bin froh, dies nicht für eine Neuauflage entscheiden zu müssen!

Ich glaube, musikalische Fähigkeiten sind in erster Linie eine Sache der Begabung. Was meine Person betrifft: Ich wäre niemals ein erträglicherer Instrumentalist oder Sänger geworden. Falsche Töne höre ich nur, wenn sie mindestens eine kleine Terz neben den richtigen liegen. Dagegen glaube ich, ein ganz gutes Gefühl für den Rhythmus zu haben. Schon als Kind lärmte ich – sehr zum Leidwesen meiner Eltern – auf allem herum, was Krach machte. Als sie mir mal eine Blechtrommel zu Weihnachten schenkten, bedauerten sie das jahrelang.

Heute würde man in solchen Fällen seinem Nachwuchs wahrscheinlich Schlagzeugstunden spendieren – aber das war damals weder finanziell möglich noch mit unseren Wohnverhältnissen kompatibel. Für den Drummer in einer Amateur-Band hätte es sonst sicherlich gereicht!

Mein Schlagzeug-Gott" ist nach wie vor Gene Krupa:

https://www.youtube.com/watch?v=3mJ4dpNal_k 

Dass ich so gerne tanze, hat sicher mit meiner rhythmischen Begabung zu tun. Na, immerhin!

Geige oder Klavier hingegen hätte ich auch bei den besten Lehrkräften und in hunderten Stunden nicht wirklich gelernt. Bestenfalls hätte ich Noten heruntergespielt.

Daher sage ich: Musikalisches Tanzen lässt sich auch in vielen Kursen oder Workshops nur von denen erlernen, die dafür begabt sind. Und die hören vieles eh, ohne dass es ihnen beigebracht werden muss. Zudem sollten sie auch noch ein gutes Körpergefühl haben, um die Musik in Bewegung umzusetzen. Daher scheidet ein Großteil der Menschheit fürs musikalische Tangotanzen eh aus – jedenfalls für das, was Kollege Wendel unter dieser Fähigkeit versteht.  

Das bedeutet aber durchaus, dass auch diese Mehrheit Spaß am Tango haben kann – im Lehnstuhl oder beim Herumtappen auf dem Parkett. Aber es ist grober Unfug, der Kundschaft einzureden, man könne jedem und jeder wirklich musikalisches Tanzen beibringen.

Daher erklärt sich natürlich der Erfolg von Encuentros und anderer kasernierter Wochenendveranstaltungen, bei denen man das Ego mit ewig gleichen Trippelschrittchen zu langweiliger Musik pflegt und sich für eine Elite hält.

Diversen Beiträgen auf Facebook entnehme ich gerade, dass man beim Tango schöne Umarmungen, gute Zahnpflege, trockene Hemden, Nikotin-Abstinenz und Beachtung der Ronda erwarte. Vom Tanzen ist kaum noch die Rede.

Letztlich gestehen sich die meisten Veranstaltenden diese Misere durchaus ein, indem sie ihren Gästen Tangos bieten, welche zur tänzerischen Umsetzung wirklich nur ein Minimum an Musikalität, dafür aber ein hohes Maß an akustischer Abhärtung verlangen. Eines der vielen Beispiele:

https://www.youtube.com/watch?v=aj4D7K4bFQo

Mit Begriffen wie „traditionell“, respektvoll"  oder „magisch“ und dem Lobpreis der „Umarmung“ lässt sich der Rückzug aus dem Tänzerischen bestens verkaufen.

Das Blöde ist nur: Mit der Beschränkung auf solche Förderschul-Musik verjagt man die Minderheit der musikalisch Begabten aus der Tangoszene – diejenigen, welche halt das simple Geschrammel anödet, die vergleichsweise auf Beethoven statt auf „Hänschen klein“ stehen. Die würden vielleicht eher bei solchen Stücken wach:

 

https://www.youtube.com/watch?v=ZsWg0lcOAP0

Diesen Titel habe ich in über 25 Jahren Tango noch nie auf einer Milonga gehört. Das reicht eigentlich zur Beschreibung der Misere.

Immer wieder beobachte ich, dass die Gäste besser tanzen, wenn man ihnen kompliziertere Musik bietet. Klar  die zwingt halt stärker zum Hinhören.

Die eigentliche Herausforderung wäre also nicht, „Musikalität“ irgendwie zu unterrichten (was schwierig bis unmöglich ist) – sondern die musikalisch Begabten zurück in die Szene zu holen. Aber das sind halt vergleichsweise wenige, und das widerspricht natürlich den kommerziellen Interessen. Stattdessen übt man sich in der hohen, lukrativen, aber vergeblichen Kunst, Kühen das Bergsteigen zu lehren.

P.S. Ich weiß noch, dass wir Schüler der 5. Klasse in der Musikstunde mal einzeln vorsingen sollten – Titel nach freier Auswahl. Ich entschied mich für den „Jäger aus Kurpfalz“:

 

https://www.youtube.com/watch?v=DffXWdnEr9g

Hernach meinte mein (eigentlich sehr netter) Musiklehrer, ich solle mich halt im Unterricht auf die Theorie beschränken, dann wäre das schon in Ordnung. Wann immer ich meine Frau an diese Geschichte erinnere, regt sie sich furchtbar über dieses „unpädagogische Monster“ auf.

Ich sehe das anders: Mein Lehrer hat mich vielleicht davor bewahrt, später bei „DSDS“ von Dieter Bohlen niedergemacht zu werden. Der verfügt nämlich, zumindest musikalisch, über eine Fähigkeit, welche vielen Tango-Lehrkräften abgeht: Realismus.

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