Ja, aber die Ronda…

Der Berliner Tangolehrer Rafael Busch veröffentlicht derzeit auf Facebook Kurzvideos, in denen er der Tangogemeinschaft interessante Fragen stellt. Doch egal, worum es geht – früher oder später kommt stets ein Thema auf, das in unserem Tanz heute wohl wichtiger als alles andere ist: die Einhaltung der Tanzspuren auf dem Parkett – mit anderen Worten die neue „Tangogöttin“ namens „Ronda“:

„Ich frage mich dann, was das noch mit Tango zu tun haben soll. Insbesondere dann, wenn durch den Ausdruckstanz zwei Spuren der Ronda blockiert werden.“

„Wenn ich permanent angerempelt werde aus einem falschen Freiheitsverständnis gehe ich eben auf andere Milongas, wo es respektvoller zugeht.“

„Meiner Erfahrung nach benötigen die verschiedenen Tanzstile, insbesondere Neo, mehr Platz, was oft die Ronda beeinträchtigt.“

https://www.facebook.com/watch/?ref=saved&v=1866100440652325

„Ich finde es wichtig, dass Führende vor dem Eintritt in die Ronda freundlichen Blickkontakt zu dem Führenden hinter ihnen aufnehmen. Dass sozusagen auch die Führenden in der Ronda miteinander tanzen.“

„Für mich als Leader ist es sehr hilfreich, wenn andere Leader in Kontakt mit mir gehen. Beim Betreten der Tanzfläche hilft es mir, wenn sie mich sehen und nicken, ja, komm, wir warten, oder umgekehrt mache ich das auch so. Beim Wechseln der Kreise das Gleiche, einfach wie Blinker setzen. Wenn ich zu dem Paar vor mir extra Platz mache, um eine größere Figur darein zu tanzen & dann einer ungefragt in die Lücke prescht, stresst das total.“

https://www.facebook.com/watch/?ref=saved&v=841248835343066

Die Popularität der Kreisverkehr-Vorschriften wird nur noch übertroffen von der allein selig machenden Umarmung, die man ja auch als Schutz braucht, um nicht von Kreativitäts-Terroristen niedergemäht zu werden!

Wie konnte ich nur jahrzehntelang ohne solche Offenbarungen tanzen?

Apropos: Die zehn Tänze des Welttanzprogramms, die wir einst erlernten, sind in ihrer Mehrheit, wie der Tango argentino, nicht stationär: Bei den fünf Standardtänzen geht es sowieso vorwärts, und in der Lateinsektion tanzt man lediglich Rumba, Cha-Cha-Cha und Jive am Platz.

Von Tanzspuren oder Rondas haben wir in vielen Jahren Unterricht nie etwas gehört – außer, dass es nicht rücksichtsvoll sei, andere Paare zu touchieren oder ihnen so nahe zu kommen, dass sie eine Figurenfolge abbrechen müssen. Beim Turnier konnte es dafür Punktabzüge geben. Und ja: Auch auf Bällen und anderen Tanzveranstaltungen konnte es mal eng werden. Dann verzichtete man halt auf Raumgreifendes.

In den anderen Gesellschaftstänzen scheint der Begriff „Ronda“ immer noch unbekannt zu sein. Google liefert beim Stichwort „Ronda Tanz“ lediglich Informationen zur spanischen Stadt „Ronda“. Erst beim Suchbegriff „Ronda Tango“ wird die Suchmaschine gesprächiger.

Ich glaube, der Unterschied liegt schon einmal daran, dass die meisten klassischen Gesellschaftstänze nicht als „Stehmeditation“ verstanden werden. Je nach Musik geht es da, nicht nur bei Turnieren, oft heftig zur Sache:

https://www.youtube.com/watch?v=1K-aOsF0U0U

Eine Ronda sehe ich hier nicht – ebenso wenig blutige Kollisionen. Und obwohl wir nicht erst heute technisch meilenweit von solchen Moves entfernt sind, juckt es mich beim Zusehen immer noch in den Füßen. Der Paso Doble gehörte einst zu unseren Lieblingstänzen!

Warum besteht man lediglich beim Tango auf das spurtreue Hinterhertappen? Ich glaube, es hängt mit der Altersentwicklung zusammen: Ich kenne niemanden, der die Standard- und Lateintänze erst in vorgerücktem Alter erlernt hat. Die typische Karriere beginnt da mit einem Schülertanzkurs – und wer mehr will, durchläuft das ganze Kurssystem der Tanzschulen und tritt eventuell in immer noch jungem Alter einem Tanzsportclub bei. Über 2000 gibt es hierzulande – mit mehr als 200000 Mitgliedern deutlich mehr als im Tango Aktive.

Ganz anders sieht es für diejenigen aus, die es erst jenseits der Lebensmitte (nach der Scheidung bzw. dem Auszug der Kinder) zum Tanzen zieht – oft angelockt von der Verheißung, beim Tango müsse man nur das Gehen lernen. Auch diese Beschreibung dürfte in der Tanzwelt einmalig sein.

Dass man zur Orientierung auf dem Parkett eine Menge Routine braucht, verschweigt man der Tango-Kundschaft tunlichst. Die erwirbt man nämlich nur durch hunderte, besser tausende Stunden Praxis – in möglichst vielen Tanzarten und mit einer größeren Zahl von Partnern.

Daher wimmelt es auf den Tango-Tanzflächen von Personen, die nur über Wasser bleiben, wenn man sie – wie weiland der Bademeister – mit Korkring und Angel durchs Flachwasser zieht. Das wäre ja nicht schlimm, wenn sich solche Leute nicht einbilden würden, schwimmen zu können! Schlimmer noch: Alle müssten sich nun auf diese Weise durchs Wasser bewegen.

Die ganzen „Ronda-Regeln“ sind somit Hilfsmittel für Leute, die wenig bis gar nicht navigieren können. Niemand verbietet ihnen ja, mitzutanzen. Und klar, man muss auf Anfänger und Grenzbegabte Rücksicht nehmen. Nur lasse ich mir von denen nicht vorschreiben, wie ich das Parkett zu benutzen habe!

Wer „permanent angerempelt“ wird, sollte sich fragen, ob er schon geschickt genug ausweichen kann – oder erstmal Veranstaltungen besuchen, bei denen auf dem Parkett genug Platz ist.

Ich werde bei diesem Thema nicht zurückstecken, weil es mir ans Eingemachte geht: Für mich ist Tanz ein Ausdruck individueller Freiheit, eigener Gestaltung. Wer ihn zur Fronleichnams-Prozession macht, bei der die Gläubigen mit Gebetsformeln einer Monstranz hinterherdackeln, nimmt ihm einen Großteil seiner Faszination, macht ihn nach meinem Empfinden zu einem sinnentleerten Ritus.

Wer von mir Rücksicht verlangt, wird sie gerne bekommen. Störrisch werde ich aber, wenn mir Leute nach ein paar Jahren auf dem Parkett erklären, wie Tanzen geht!

Kommentare

  1. Heute erreichte mich der folgende Kommentar, den ich mit Erlaubnis der Verfasserin hier wiedergebe:
    „Guten Morgen, Herr Riedl.
    Erst einmal wünsche ich Ihnen und Ihrer Familie frohe Weihnachten.
    Ich würde gerne meine Gedanken zu Ihren letzten Blogartikel teilen. Ich persönlich schätze als Folgende die Ronda sehr. In meinen Anfangsjahren hab ich die Verkehrsregeln der Ronda auch nicht ganz ernst genommen. Ich wollte tanzen, mich ausdrücken, meinem Tanz Freiheit geben. Und schrammte oft mit dem Stöckel anderen in die Achillessehne. Meinem Führenden stresste das aber maßlos. Stress, Anspannung und Unsicherheit übertragen sich sofort auf das Gegenüber, und der Tanz verliert seine Geschmeidigkeit, Frust ist die Folge. Also...was tun? Artig folgen oder die Möglichkeit finden, gemeinsam tänzerisch das Maximale herauszufinden? Bei 100 Paaren gleichzeitig muss man einen Kompromiss finden. Das heißt nicht, brav hintereinander her zu dabbeln, sondern gemeinsam mit allen zu tanzen. Und selbst in der engen Umarmung und auf kleinsten Raum, funktioniert musikalisches, witziges Tanzen hervorragend. Es sieht vielleicht von außen nicht so aus, es fühlt sich aber wunderbar an. Natürlich kann man Räume nutzen, grundsätzlich sollte man aber in seiner Spur bleiben.
    Ich gebe Herrn Busch in allen Punkten recht, da ich selbst jedes Mal in den ‚Genuss‘ eines ‚Nicht-Ronda-Kenners‘ komme. Da wird mitten im Lied einfach auf die Tanzfläche getreten, ohne auf den entgegenkommenden Verkehr zu achten. Ein Leader-Cabeceo ist meiner Meinung eines der wichtigsten Dinge überhaupt. Ich sehe dich, ich achte auf dich, ich gebe dir Zeit, dich einzureihen. Das hat was mit Höflichkeit zu tun, mit Achtsamkeit. Die Folgende wird nicht aus ihrem Flow gerissen. Es ist auch nicht so, dass es keine Möglichkeit gibt, weitgreifende Figuren zu tanzen. Lichtet sich der Saal zur späteren Stunde und es gibt nur noch eine Spur, kann man sich auch mal ordentlich austoben.
    Fazit: Ich als Folgende profitiere enorm von solchen Verkehrsregeln. Sie als Führender sehen in der Regel, wohin Sie tanzen, wer entgegenkommt. Ich nicht. Ich habe meine Aufmerksamkeit komplett auf die Musik und meinen Partner gerichtet. Jede Berührung reißt mich aus dieser Verbindung und erschreckt mich maßlos. Und ein entspannter Führender überträgt sich auch auf mich.
    Liebe Grüße Nicola Groll“

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    1. Liebe Nicola,
      herzlichen Dank für die netten Weihnachtsgrüße. Auch wir wünschen euch möglichst entspannte Festtage!
      Ich mache häufig die Erfahrung, dass Leute, die früher die Freiheiten des Tango genossen, nun heftig am Zurückrudern sind. Na gut – man kann ja zu neuen Erkenntnissen kommen. Vor allem, wenn der aktuelle Trend die Richtung ändert,
      Auch ich gebe Rafael Busch in vielem Recht – nur hat er sich in den beiden Videos überhaupt nicht zum Thema Ronda geäußert. Das findet man ausschließlich in den Kommentaren anderer zu seinen Videos.
      Veranstaltungen mit hundert Leuten auf dem Parkett meide ich. Auch, weil es mir da zu eng wird.
      Wir kennen einander ja von früheren Milongas, wo es teilweise ziemlich unkonventionelle Musik gab. Kamen da wirklich öfters Treffer auf die Achillessehne vor?
      Klar, man muss sich auf dem Parkett rücksichtsvoll bewegen. Aber dazu brauche ich keine Tanzspur-Verordnungen. Allerdings sehe ich die Rolle der Folgenden nicht darin, sich nur mit geschlossenen Augen in den „Flow“ zu begeben. Das wäre mir zu passiv. Sie darf schon auch darauf achten, dass wir anderen Paaren nicht zu nahekommen. Und eigene Impulse liefern. Ich bin als Tänzer nicht dafür da, sie in Trance zu versetzen.
      Und ein bisschen Stress darf beim Tanzen doch sein – für mich ist Paartanz keine Yoga-Meditation, sondern etwas Animierendes, ja Aufregendes.
      Ich glaube, mit gegenseitiger Toleranz lassen sich die verschiedenen Auffassungen häufig verbinden. Niemand hat die Wahrheit im Tango für sich gepachtet. Wo man mir aber mit ideologisch geprägten Vorschriften kommt, gehe ich einfach nicht mehr hin.
      Danke und liebe Grüße
      Gerhard Riedl

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    2. Soeben erreichte mich ein Kommentar von Peter Ripota:

      „Wie du es ja so schön ausgesprochen hast: Diejenigen, die beim Tango auf einem Reigentanz beharren (vielleicht mit Warnblinkanlagen auf den Häuptern der Damen?), sind vergleichbar den Schwimmern, die nicht schwimmen können. Zusammenstöße gibt es nur mit Anfängern (zu denen ich die Verfechter einer strikten Ronda zähle), weil die den Tanzfluss nicht beachten, den Grundschritt mit rückwärts beginnen oder mitten im Geschehen ein Sandwich zelebrieren.
      Als mehr oder minder regelmäßiger Besucher der Montags-Abende im München Lachdach weiß ich, wovon ich rede. Dort wird bunt über die Tanzfläche gepest oder durch die Luft gewirbelt, teils auch zu dritt ("Contango"). Das aber findet niemand anstößig, auch nicht im wörtlichen Sinn des Wortes. Auch bei den ausschweifendsten Tänzen geschieht nichts, weil beide aufpassen, was los ist, und blitzschnell reagieren. Das muss man halt können. Ronda-Verfechter können offenbar nur stur durch die Gegend stampfen und darauf warten, ob die Ampel rot oder grün leuchtet.“

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    3. Lieber Peter,
      ich fürchte, da kann man nichts machen: Eine große Mehrheit möchte halt inzwischen diesen „Sicherheits-Tango“. Auch wenn dabei eigene Gestaltung und tänzerische Freiheit auf der Strecke bleiben.
      Mir hat noch niemand erklären können, warum bis auf den Tango alle anderen Tänze auf diese „Tanzspur-Ideologie“ verzichten. Obwohl natürlich auch dort die Möglichkeit besteht, dass die Paare einander mal zu nahekommen.
      Soweit es irgendwie geht, bin ich für friedliche Koexistenz. Und mit etwas gutem Willen klappt das auch. Aber nur, wenn beide Seiten darauf verzichten, der anderen zu erklären, wie „richtiger Tango“ zu sein hat.
      Wenn nicht, gibt es ja Formate wie die Encuentros, wo man ein ganz eigenes Regelwerk schafft. Nicht schön, aber dann vielleicht die einzige Lösung.
      Danke und liebe Grüße
      Gerhard

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