Der Tango und das andere Leben
Kürzlich machte die Nachricht vom Tod eines bekannten Tangotänzers und Lehrers in den sozialen Netzwerken die Runde. Der Schauspieler, Musiker und Tänzer David Tobias Schneider hat dazu auf Facebook einen bemerkenswerten Text eingestellt:
Ich fand, dazu sollte lieber eine Frau etwas schreiben. Es gelang mir, meine liebe Gattin dafür zu animieren, mir wieder einmal einen Gastbeitrag zu schenken. Daher überlasse ich das Wort Karin Law Robinson-Riedl:
Der Tango und das andere Leben
David Tobias Schneider hat seine „Gedanken zum Tod des Tangotänzers Ruben Veliz“ auf FB veröffentlicht.
Ein für dieses Format außergewöhnlich langer, nachdenklicher Text.
David fragt sich bestürzt, wie es kommen konnte, dass ein begnadeter, international erfolgreicher Tänzer, allem Anschein nach zudem glücklicher Familienvater, plötzlich seinem Leben selbst ein Ende setzte.
Vermutungen legen nahe, dies könnte mit Rubens mutmaßlichen sexuellen Übergriffen gegenüber Frauen, auch Schülerinnen, zu tun haben und in der Folge mit massiven Vorwürfen, die ihn deswegen über verschiedene Internet-Foren erreichten.
David verurteilt dieses Gespenst „eines nicht endenden Kreislaufes von Gewalt“ und plädiert für „eine menschliche, respektvolle und aufgeschlossene Community“ – hier bezogen auf die Tango-Gemeinschaft.
Diese setzt jedoch ein gründliches Nachdenken über die bestehenden Verhältnisse voraus.
Befassen wir uns mit dem, was David „Tango und das männliche Ego“ nennt, zunächst hinsichtlich des Suizids von Ruben Veliz.
Der Freitod sei eher eine männliche Reaktion, ohne Rücksicht auf nahestehende Menschen.
Statistisch gesehen ist es richtig, dass allgemein deutlich mehr Männer Selbstmord begehen, aber auch Frauen können in derartige Abgründe geraten, dass sie Hand an sich legen und nicht mehr an die Folgen für die Familie und Kinder denken.
Dass Menschen hilflos in so tiefe Not stürzen können, dass ihnen der Freitod als einziger Ausweg erscheint, ist tieftraurig und verweist auch auf Defizite unseres sozialen Miteinanders.
Personen aber, die durch Hass und Hetze andere Menschen in Verzweiflung und letztlich sogar in den Tod treiben, sind verabscheuungswürdig. Die korrekte Benennung solcher Tatbestände überlasse ich den Juristen.
„Unzählige Fälle öffentlicher Steinigungen“ gebe es im digitalen Bereich, so David, welche die Grenzen „rechtsstaatlicher Prinzipien“ hinter sich ließen.
Dennoch darf die Frage nach Opfern und Tätern nicht aus der Balance geraten.
Ja, es ist sehr wohl gerechtfertigt, sexuelle Übergriffe von Männern gegenüber Frauen anzuklagen und zu ahnden. Und: Genau hier sollten die rechtsstaatlichen Prinzipien, insbesondere die Unschuldsvermutung, greifen.
Wo solche Dinge passieren, müssen sie behördlich, polizeilich und juristisch, aufgearbeitet werden.
Die (sogenannten) sozialen Medien dagegen sind hierzu völlig ungeeignet, weil die Schreiber dort oft unsachlich, meist persönlich, schlimmstenfalls sensationslüstern und spekulativ, von Vorurteilen belastet mit den Ereignissen und betroffenen Personen umgehen.
Die Verfolgung von Straftaten, auch sexuellen Übergriffen, obliegt nicht einer schaulustigen Meute, sondern – in einem Rechtsstaat – Polizei und Justiz.
Dass es hier Mängel gibt, ist mir bewusst: Opfer, denen nicht geglaubt wird, fehlerhafte oder schlampige Ermittlungen usw.
Aber viel schlimmer ist es, wenn Urteile oder gar „Strafmaßnahmen“ meist auch noch anonymen Kommentatoren in den Foren überlassen werden, von denen man also nicht einmal weiß, wer sie sind!
David beschreibt nun seine Gedanken zum „männlichen Ego“, im Zusammenhang mit dessen Rolle als Tangotänzer und im künstlerischen, öffentlichen Leben.
Dieses Ego ist für ihn gespalten, werde insgeheim bestimmt von Gefühlen und Gedanken, die es aber meint, nicht äußern zu dürfen, um Erwartungen der Außenwelt, ja das mühsam aufgebaute Image (besonders wichtig für den Künstler), nicht zu zerstören.
Welches Image bzw. welche Rolle wird heute von einem männlichen Tangotänzer, einem „Führenden“ erwartet?
Aus einschlägigen Diskussionen besonders auf Internetforen und in Videos geht hervor, dass die „Führungsrolle“ vieler Männer einem Rollenverständnis entgegenkommt, das deutlich an die 50-er Jahre des vorigen Jahrhunderts erinnert.
Tangotänzer, ganz gleich welchen tänzerischen Niveaus, äußern in Interviews, wie froh sie sind, „den Frauen endlich mal wieder zeigen zu können, wo’s langgeht“. Dazu kommen die Wünsche, die sie an die Damen haben – bedingungsloses Folgen, keine Eigeninitiative, das Ganze garniert mit der passenden, die Weiblichkeit betonenden Aufmachung.
In Anlehnung an die Worte Fausts: „Hier bin ich Mann, hier darf ich’s sein.“
Parallel aber dazu lautet die Botschaft mancher Frauen: „Hier bin ich Frau, hier darf ich’s sein.“
Oft liest oder hört man, wie glücklich sie sind, die Verantwortung beim Tango ihrem männlichen Partner überlassen zu können, endlich einmal wieder nicht „selbst denken“ zu müssen.
Wie passt das zu den Anforderungen einer modernen Gesellschaft, in der die Frauen immer mehr Mitbestimmung verlangen – und das mit Recht!?
Spiegelt diese Rollenvorstellung den auch in Politik und Gesellschaft erkennbaren Trend, sich heimlich oder erklärtermaßen autoritäre Strukturen zu wünschen? Sind die Menschen zunehmend von dem Streben nach Gleichberechtigung, Demokratie, Toleranz überfordert?
Sind selbstständiges Denken und Ringen um Kompromisse zu anstrengend?
Werden dabei die Leiden Einzelner oder von Minderheiten durch Unterdrückung und Verfolgung, die doch allen aus Vergangenheit und Gegenwart bekannt sind, vergessen, übersehen oder verdrängt?
Tango ist doch im Grunde ein Theater, in dem (manchmal durchaus neu erfundene!) Traditionen dieses Tanzes gepflegt und praktiziert werden.
Auch Menschen, die sich alten Tänzen, z.B. aus der Renaissance-Zeit, widmen, sind sich (hoffentlich) des spielerischen Charakters bewusst.
Das Spiel ist aber zu Ende, wenn sich der Vorhang nach dem Tanzereignis senkt und die Realität wieder beginnt.
Was den Tango betrifft, hat eine ganze Reihe von Tänzerinnen und Tänzern diesen Spiel-Aspekt offenbar völlig vergessen. Nur so erklärt sich mir die Ernsthaftigkeit, ja Verbissenheit, mit der über den „wahren Tango“, die „authentische“ Musikauswahl, Rituale des Aufforderns, Tanzweisen usw. diskutiert wird. Das endet nicht selten bei heftigen Anfeindungen gegenüber sogenannten „Quertreibern“, die vorherrschende Auffassungen nicht grundsätzlich abnicken, sondern auch kritisch hinterfragen.
Ich fürchte, manche Tangotänzerinnen und -tänzer verwechseln den Tango mit der Realität und leben hier ihre geheimen – durchaus nicht immer auf das Tanzen ausgerichteten – Wünsche aus. Bis hin zur Übergriffigkeit.
Dies ist eine gefährliche Tendenz und diskreditiert den Hauptzweck des Tango: die Musik mit Körper und Seele zu erfassen und im Tanz lebendig werden zu lassen.
Es sind Augenblicke, längere oder kürzere, wo man dieses als Glücksgefühl erleben kann, aber dann sind sie auch wieder vorbei, und sie haben wenig mit dem „anderen Leben“ außerhalb der Milonga zu tun.
Zehren darf man natürlich schon davon, bis zum nächsten Mal …
Jedes Bestreben, das Tanzen mit Rollenklischees, Regeln oder Zwängen zu belasten, zerstört die Freude an der ganz individuellen tänzerischen Umsetzung der Musik.
Ich stimme David zu, der dafür plädiert: „Es muss immer ein Leben jenseits des Rampenlichts, des Ruhmes der Öffentlichkeit, der Kunst, geben.“
Dies aber möge ein Leben sein, das den Menschen in der Wirklichkeit erdet, in dem er sich ebenso wenig in eine Rolle zwingen lässt, sondern mutig er selbst ist.
Aber auch ein Leben, wo das Miteinander kein egoistisches, rücksichtsloses Durchdrücken eigener Vorstellungen bedeutet, sondern ein gegenseitiges Verständnis und vor allem Respekt!
Der Autorin herzlichen Dank für diesen Artikel!
Liebe Karin,
AntwortenLöschenDeine Worte haben Öffnung in meinem Herzen bewirkt.
Ähnlich wie damals in der Pandemiezeit, als ein Text des amerikanischen Philosophen Charles Eisenstein zu mir kam.
Darin geht es um achtsame und ehrfürchtige Kommunikation, aus der Haltung heraus, dass die Aufmerksamkeit des Empfängers etwas sehr wertvolles ist.
Er gibt das Mantra W.A.I.T. weiter, das als kleiner Schritt vor der Äußerung empfiehlt, sich die Frage „Why am I Talking“ zu stellen.
Versuche ich jetzt, sie auf mein momentanes Tun anzuwenden, stelle ich fest, mein Adrenalin macht Herzklopfen, ich bin aufgeregt, ich will andere durch den Hinweis auf einen guten Text bessern …
Alles sehr archaische Gefühle. Ich könnte das Adrenalin wieder verebben lassen, das Posten hier sein lassen.
Posten oder nicht … das ist dann die einzige Wahl, die ich habe.
Ich tu’s doch, denn die Art, wie wir als Menschen miteinander kommunizieren, ist nicht hoch genug zu schätzen.
Ich versuche jetzt, einen Link reinzukopieren, sollte das nicht gut funktionieren, so findet man den Text leicht auf der Webseite charleseisenstein.org per Suche nach Essays und da „We can do better than this“:
https://charleseisenstein.org/essays/we-can-do-better-than-this/
Liebe Grüße an alle,
Peter
LöschenLieber Peter,
es ist schön und freut mich, dass dich mein Artikel bewegt hat.
Ich habe mir den Text, den du verlinkt hast, durchgelesen und kann der Kernidee durchaus zustimmen: Es ist natürlich wichtig, vorher zu überlegen, was und wie man etwas äußert.
Die Internet-Foren zeugen oft nicht von solch einem reflektierten Kommunikationsverhalten.
Vielleicht sollten wir aber auch über unseren „analogen“ Umgang miteinander nachdenken.
Mit besten Grüßen
Karin