Tanzbar oder untanzbar?

 

In einem Facebook-Forum für DJs stellte ein Leser eine Frage, die mich auch seit vielen Jahren beschäftigt:

„Hallo liebe Freunde, ich habe seit einiger Zeit eine Frage. Welche Merkmale muss ein Lied haben, um als nicht tanzbarer Tango eingestuft zu werden? Könnt ihr bitte auch einige Beispiele nennen?“

In den Kommentaren versuchen sich einige Schreiber auch an einer „Definition der Tanzbarkeit“. Eine kleine Auswahl (von mir übersetzt):  

„Entschuldigt, dass ich ein wenig vom Thema abschweife, aber Tanzbarkeit ist das eine. Das andere ist der emotionale Wert. Ein Musikstück kann absolut tanzbar sein, aber es löst keine ausreichende emotionale Bindung aus. Wenn man es dann in der Milonga spielt, hat es immer noch keinen Wert.“

„Wenn du als DJ auch ein erfahrener Tänzer bist, dann hörst du dir den Song an und weißt genau, ob er dich und hoffentlich auch die Tänzer dazu bringt, deine Füße zu bewegen. Zum Tanzen. Für mich ist das meine Definition von tanzbar.“

„Oft sind es unvorhersehbare Tempowechsel oder ein unklarer Rhythmusbereich, die ein Lied untanzbar machen. Nach den 50er Jahren übernahm oft der Sänger die Hauptrolle und hatte viel mehr Freiheiten bei Tempowechseln und Pausen, so dass das Orchester folgen konnte, während die Sänger vorher innerhalb des vom Orchester vorgegebenen rhythmischen Rahmens bleiben mussten. Und es kommt darauf an, für wen sie tanzbar ist. Profis in einer Show können Musik tanzen, die für einen durchschnittlichen Tänzer in einer traditionellen Milonga nicht tanzbar ist.“

„Als ich 2004 mit dem Auflegen begann, gab es ein DJ-Tutorial im El Corte in Nijmegen (ich empfehle es immer noch). Sie nannten zwei Dimensionen: Rhythmus und Energie. Für die Energie gaben sie zwei Werte an:

1. melancholisch (saugt die Energie aus dir heraus, nicht zu verwechseln mit romantisch!),

2. energetisch (bringt Energie in dich).

Für den Rhythmus wurde keine Skala angegeben, also habe ich meine eigene dreiteilige Skala definiert:

1. arhythmisch, bedeutet auch: rhythmische Veränderungen

2. konstanter Rhythmus, aber nicht immer hörbar, oder zu schnell

3. geeignet für Anfänger.“

„Klare und vorhersehbare Taktschläge. Kurze und technisch nicht auffällige Phrasen. Keine oder wenig Modulation. 2-4 Minuten Länge.“

„Man muss zunächst definieren, für wen es nicht tanzbar ist.“

Ich finde es interessant, dass der Duden zwar das Adjektiv „tanzbar“ („zum Tanzen geeignet“) kennt, jedoch nicht die Verneinung „untanzbar“. Meiner Ansicht nach durchaus logisch, denn das würde ja bedeuten, dass zu einer solchen Musik überhaupt nicht getanzt werden kann – von niemandem. Das wäre eine gewagte Vermutung.

Dem widerspricht es nicht, dass sich auch Kollege Jochen Lüders „Zur (Un)Tanzbarkeit von Piazzolla“ geäußert hat. Aber der glaubt ja auch, ein Komponist müsse erlauben, dass man zu seinen Stücken tanzen darf.

https://jochenlueders.de/?p=13894

https://jochenlueders.de/?p=16464

Für mich stellen sich in diesem Bereich zwei Fragen:

Regt eine Musik dazu an, sie tänzerisch umzusetzen?

Das hängt zunächst von den Hörgewohnheiten, dem persönlichen Geschmack ab. Im Tango aber vor allem vom derzeitigen Trend, jedes Risiko auf dem Parkett zu vermeiden. Also sollen die DJs möglichst nur Einfaches und Bekanntes spielen. Durch öde Wiederholungen und monotone Rhythmen wird diesen Bedürfnissen Rechnung getragen. Ein DJ, der Komplizierteres auflegt, riskiert den Verlust seiner Gigs. Und die Gäste, welche etwas höhere musikalische Ansprüche haben, hat man zum Großteil aus den Milongas vertrieben.

Ist man selber in der Lage, zum Gehörten zu tanzen?

Hierbei wird die Doppelbödigkeit des Problems besonders deutlich: Kaum jemand wird zugeben, dass es bei ihm halt tänzerisch nicht reicht. Also packt man das Verdikt „untanzbar“ aus. So kann man die Schuld auf die Musik abschieben. Hilfsweise wird das Argument von den „überfüllten Tanzflächen“ bemüht: Man könnte schon, wenn man Platz hätte. Und auf wenig besuchte Veranstaltungen weicht man natürlich nicht aus. Da ist ja „nichts los“

Obwohl ich es schon oft geschrieben habe, wiederhole ich das gerne: Natürlich bleibt es jedem unbenommen, zu welcher Musik er (oder sie) tanzen möchte. Man sollte nur das Gerede von der Untanzbarkeit" lassen. Es stimmt halt nicht!

Neulich besuchte ich eine ganz gut frequentierte Milonga, auf der ziemlich abwechslungsreiche Musik geboten wurde. In einer Runde legte der DJ ein Stück auf, das mir völlig unbekannt war – es klang wie eine moderne Vivaldi-Variation: tänzerisch selbst für meine Begriffe ziemlich schwer umzusetzen! Ich war mit einer Tanguera auf dem Parkett, mit der ich zum ersten Mal das Vergnügen hatte. Dank ihrer großen Mithilfe kriegten wir die Sache halbwegs hin und hatten großen Spaß dabei. Am Ende brach lauter Jubel für den DJ aus. Solche Erlebnisse habe ich immer wieder mal.

Daher glaube ich, die Tanzenden sind im Schnitt nicht so doof wie viele Auflege-Experten fürchten. Man darf dem Publikum gelegentlich durchaus etwas zumuten. Wie ein Stück ankommt, sehe ich, wenn es läuft. Voraussagen sind unzuverlässig. Auflegen lebt vom Experiment und nicht von der exakten Befolgung von Kochrezepten. Und Achselnässe passt nicht ans Mischpult.

Das Wichtigste am Tango scheint für nicht wenige das korrekte Befüllen von Schubladen zu sein. Ganz wichtig sind da die Begriffe „tanzbar“ und „untanzbar“. Vor allem beim Thema Piazzolla scheint für viele die Unterscheidung klar.  

Im obigen Post schrieb ein Kommentator über dem Begründer des Tango nuevo:

„Er hat viele Lieder, die nicht tanzbar sind. Absolut wunderbare Musik, mit ein paar Merkwürdigkeiten wie...Trommeln...als Perkussion. Aber es wäre für mich sehr unangenehm, das folgende Lied in einer Tanda zu hören:“

Tja, was soll man dazu sagen?

https://www.youtube.com/watch?v=pR3ALLTRdvI

Eine interessante Information übersandte mir mein Leser Hans-Peter Römer:

„Das Stück ist Teil einer Filmmusik zu einem französisch-bulgarischen Film von 1975. Es geht um den Militärputsch von Pinochet gegen Allende, und der Titel ‚Llueve sobre Santiago‘ war das Codewort des chilenischen Militärs für den Putsch, das über Radio verbreitet wurde.“
https://fr.wikipedia.org/wiki/Il_pleut_sur_Santiago

Ich kannte den Titel nicht und habe mich sehr über diese Entdeckung gefreut. Und es wäre mir sehr unangenehm, dazu nicht tanzen zu können!

Quelle: TDJF - Tango DJ Forum | Facebook (Post vom 24.11.24)

Kommentare

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