Der Tangomensch

 

1931 veröffentlichte Kurt Tucholsky in der Zeitschrift „Die Weltbühne“ einen seiner bekanntesten Texte: „Der Mensch“ – Untertitel: „Ein Schulaufsatz von Kaspar Hauser“.

Wer den Artikel nicht kennt (was ich mir kaum vorstellen kann), darf ihn gerne hier nachlesen:

https://www.glanzundelend.de/konstanteseiten/tucholskyuebersicht.htm

Ich habe nun Tucholskys geniale Satire ein wenig auf den Tango bezogen, was eigentlich ganz mühelos gelingt.

Viel Spaß!

Der Tangomensch

Der Tangomensch hat zwei Beine: eines, worauf er steht, und eines, worauf er stehen möchte. Zusammen nennt man das eine Tangofigur.

Der Tangomensch ist ein Wirbeltier und hat eine unsterbliche Seele, sowie auch einen Tangolehrer, damit er nicht zu übermütig wird.

Der Tangomensch wird auf künstlichem Wege ausgebildet, dies empfindet er als wichtig und spricht gern davon. Er wird so gemacht, wie er ist, hingegen nicht gefragt, ob er auch so gemacht werden wolle.

Der Tangomensch ist ein nützliches Lebewesen, weil er dazu dient, durch seine Teilnahme Kurse und Workshops zu füllen, durch sein oftmaliges Scheitern den Profit von Coaches zu erhöhen, sowie auch Tangokultur, Kunst und Wissenschaft.

Der Tangomensch hat neben dem Trieb der Fortpflanzung und dem, zu essen und zu trinken, zwei Leidenschaften: die Musik zu ignorieren und zu reden statt zuzuhören. Man könnte den Tangomenschen geradezu als ein Wesen definieren, das nie zuhört. Wenn er weise ist, tut er damit recht: denn Gescheites oder Wohlklingendes bekommt er nur selten zu hören. Sehr gern hören Tangomenschen: Versprechungen, Schmeicheleien, Anerkennungen und Komplimente. Bei Schmeicheleien empfiehlt es sich, immer drei Nummern gröber zu verfahren als man es grade noch für möglich hält.

Der Tangomensch gönnt seiner Gattung nichts, daher hat er die Tangoregeln erfunden. Er darf nicht, also sollen die anderen auch nicht.

Um sich auf einen Tangomenschen zu verlassen, tut man gut, sich auf ihn zu setzen; man ist dann wenigstens für diese Zeit sicher, dass er nicht davonläuft. Manche verlassen sich auch auf den Charakter.

Der Tangomensch zerfällt in zwei Teile: in einen männlichen, der nicht führen kann, und in einen weiblichen, der nicht führen will. Beide haben sogenannte Gefühle: Man ruft diese am besten dadurch hervor, dass man gewisse Nervenpunkte des Organismus funktionieren lässt. In diesen Fällen sondern manche Menschen Tangolyrik ab.

Der Tangomensch ist ein pflanzen-, seltener fleischfressendes Wesen; auf Nordpolfahrten frisst er hier und da auch Exemplare seiner eignen Gattung („Fingerfood“), doch wird dies durch häufig wechselnde Sexualkontakte wieder ausgeglichen.

Der Tangomensch ist ein soziales Geschöpf, das am liebsten zu Szenen geballt sein Leben verbringt. Jede Szene hasst die andere Szene, weil sie die andere ist, und hasst die eigne, weil sie die eigene ist. Den letzteren Hass nennt man sozialer Tango.

Jeder Tangomensch hat eine Leber, eine Milz, eine Lunge und eine feste Überzeugung von diesem Tanz; sämtliche vier Organe sind lebenswichtig. Es soll Tangomenschen ohne Leber, ohne Milz und mit halber Lunge geben; solche ohne  diese innere Einstellung gibt es nicht.

Schwache Fortpflanzungstätigkeit facht der Tangomensch gern an, und dazu hat er mancherlei Mittel: den Stierkampf, das Verbrechen, den Sport und die Tangofestivals.

Tangomenschen miteinander gibt es nicht. Es gibt nur Menschen, die führen, und solche, die folgen. Doch hat noch niemand sich selber geführt: weil der opponierende Sklave immer mächtiger ist als der regierungssüchtige Herr. Jeder Tanzende ist sich selber unterlegen.

Wenn der Tangomensch fühlt, dass er nicht mehr hinten hochkann, wird er fromm und weise; er verzichtet dann auf die sauern Trauben auf dem Parkett und schaut lieber zu. Dieses nennt man innere Einkehr. Die verschiedenen Altersstufen im Tango betrachten einander wie verschiedene Rassen; Alte haben gewöhnlich vergessen, dass sie jung gewesen sind, oder sie vergessen, dass sie alt sind, und Junge begreifen nie, wieso sie Tango tanzen sollten.

Der Tangomensch möchte nicht gern mit dem Tango aufhören, weil er nicht weiß, was dann kommt. Bildet er sich ein, es zu wissen, dann möchte er es auch nicht gern: weil er das Alte noch ein wenig mitmachen will. Ein wenig heißt hier: ewig.

Neben den Tangomenschen gibt es noch Münchner und Berliner, aber die haben wir noch nicht gehabt und bekommen Zoologie erst in der nächsten Klasse.

Hier noch der Originaltext zum Anhören:

https://www.youtube.com/watch?v=xu0VUp5vabY

Kommentare

  1. Es gibt ein Buch von Oliver Kent: Enjoy Getting the Dances You Want. Ich würde nicht behaupten, das darin letzte Weisheiten kommuniziert werden, aber es enthält eine recht amüsant zu lesende Tango-Community-Typklassifizierung. Mehr will ich hier nicht verraten, aber vielleicht regt es ja was an...

    Ansonsten hätte ich hier noch - teilweise als Reaktion auf das gerade wohl aktuelle Thema Nachwuchs im Tango - eine kleine Szene aus Game of Thrones anzubieten. Daenerys lädt John Snow zu einem Drachenflug ein (er bekommt einen eigenen). Als sie wieder gelandet sind, fragt sie ihn, wie es war. Er sagt "you totally ruined horses for me". Das beschreibt in etwa - natürlich vollkommen subjektiv und sicher auch ein bißchen unfair - meine Einstellung zu anderen Tanzstilen, nachdem ich im Tango einigermaßen aus der "erstmal in der Ronda überleben"-Phase raus bin. Was ich damit sagen will: wenn die Kids lieber reiten oder zu Fuß gehen wollen, so be it.

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    1. Dürfen sie. Wir sind ja ein freies Land. Aber nachdem bei uns etwa 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen übergewichtig sind, täte ein wenig mehr Bewegung – welche auch immer – durchaus gut.
      Zum Buch von Oliver Kent, speziell der Klassifizierung der „Tangotypen“, gibt es auf meinem Blog einen Beitrag:
      https://milongafuehrer.blogspot.com/2018/01/peter-ripota-geniee-die-tanze-die-du.html

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  2. Aha, Sie sind also ein Land. Sie lassen stilistisch wirklich nach!

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    1. Nein, nicht ich, sondern wir: Plural, nicht Singular.
      Aber ich bin dankbar, dass Sie nicht den Artikel selber kommentiert haben. Tucholsky dürfte ein bisschen zu schwierig sein.

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  3. Wenn der/die Besprechende solch ein Bild-Zeitungsdeutsch verwendet, habe ich keine Lust und winke gerne ab. Da Sie es nicht verstanden haben: Wir sind eine Nation oder ein Volk. Aber kein Land. Ist doch gar nicht so schwer.
    Sie als Bayer waren damals ja vielleicht auch Papst.

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    1. Ein typisches Vorgehen anonymer Blogtrolle: Statt auf den Artikel einzugehen hängt man sich an einen Kommentar, um einige dumme Sprüche loszuwerden.
      Daher Ende der Debatte!

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