„Darf ich um diesen Tanz bitten?“

Der Artikel über mein jüngstes „Korb-Erlebnis“ hat eine meiner Dauer-Kritikerinnen auf den Plan gerufen, die natürlich mit meiner Sichtweise nicht einverstanden ist.

Gute Kinderstube, so ihre Auffassung, sei doch nicht mit einem „Tanz-Gebot gleichzusetzen“. Gerade von Frauen würden Gefälligkeiten erwartet, die sie nötigten, ihre Grenzen zu übergehen. Selbst wenn eine Person prinzipiell nicht mit jemandem tanze, so sei dies einfach „ihr gutes Recht“ – und nichts weiter.

Nun ist mir nicht erinnerlich, dass ich eine weibliche Person schon einmal genötigt hätte, mir grenzüberschreitende Gefälligkeiten zu erweisen. Bei Ruhestandbeamten könnte es ab einer Strafe von sechs Monaten gefährlich werden…

Obwohl wir uns nicht in einem Gerichtssaal, sondern auf einer Milonga befinden: Selbstverständlich ist es das „gute Recht“ einer Tänzerin (oder eines Tänzers), mit jemandem nicht aufs Parkett zu wollen. Ich habe auch nicht vorgeschlagen, Renitent*innen zu verklagen. Nur ist es mir ebenso erlaubt, zur Beurteilung einer solchen Person zu gelangen. Höflicherweise würde ich diese nicht mal laut äußern. Auf meinem Blog andeuten darf ich sie aber schon!

Beim Tanzen lasse man „viel mehr Nähe zu als sonst“, so meine Leserin. Das dürfe doch besonderen Personen vorbehalten bleiben! Auch das ist natürlich erlaubt. Dass man dann aber als arrogant oder elitär rüberkommen könnte, muss man ebenso ertragen.

Weiterhin stellte die Kommentatorin fest, bei mir kochten die Gefühle hoch. Entschuldigung – aber geht es im Tango ohne? Ich halte es aber für einen kulturellen Fortschritt, wenn wir im Überschwang nicht das Messer ziehen wie unsere Altvorderen! Mir reicht es völlig, mich auf meinem Blog damit zu beschäftigen.

„Niemanden muss ich irgendetwas erklären, wenn ich mit jemanden nicht tanzen will“, schreibt meine Leserin. Auch da hat sie zweifellos recht. Dann vielleicht als Stoffel zu gelten, muss man ebenfalls ertragen.

Es fällt mir nicht zum ersten Mal auf, dass solche Leute stets in Kategorien von „dürfen“ und „müssen“ urteilen, auf ihr „gutes Recht“ bestehen. Was man jedoch in Gesellschaft tun oder lassen sollte, würde eine Feinfühligkeit voraussetzen, die ihnen offenbar nicht zur Verfügung steht.

Ein weiterer Vorwurf lautet, ich würde „althergebrachte Einstellungen und Verhaltensweisen“ nicht überdenken. Ich meine, da sind wir am Kern des Problems angelangt:

Ja, ich werde von Werten, die man mir dereinst nicht nur in der Tanzstunde beigebracht hat, nicht abgehen! Annähernd kann man die mit „Sitte und Anstand“ umschreiben. Man mag im Internet hart diskutieren und Satire einsetzen – in der bilateralen Situation eines gesellschaftlichen Ereignisses aber sollte man alles unterlassen, was ein reales Gegenüber enttäuschen oder kränken könnte.  

Ein „nein, ich mache gerade Pause“ stelle doch keine Abwertung oder Beleidigung dar, so meine Leserin. Ich stelle mir gerade einen Anfänger vor, der eine Viertelstunde mit sich gerungen hat, ob er es wagen sollte, eine Dame um einen Tanz zu bitten. Und der dann mit kurzen Worten wieder weggeschickt wird. Oder gar eine Anfängerin – Frauen kriegen deutlich mehr Körbe, wenn sie es riskieren, auf einen Mann zuzugehen. Schön ist das nicht. Und vor allem: Man wird es sich gut überlegen, einen neuen Anlauf zu riskieren.

Und dann hätten wir im Tango mal wieder diese verkrampfte Atmosphäre geschaffen, welche unseren Tanz so beliebt macht!

Natürlich wird man mich nun abermals belehren, mit dem Cabeceo seien solche Probleme aus der Welt geschafft. Nein, wirklich nicht: Es belastet ebenso, wenn man bemerkt, dass Blickkontakte deutlich vermieden werden. Das Ergebnis ist gleich – und dazu kommt die Unsicherheit, ob der oder die andere vielleicht einfach nur unaufmerksam oder kurzsichtig ist – oder man von einem Blick wirklich gemeint war.  

In einem Artikel habe ich einmal den Tanzlehrer Pierre Dulaine vorgestellt, der versucht, in vielen Projekten schon Kinder zum Gesellschaftstanz zu bringen. Im Film „Dancing in Jaffa“ wird gezeigt, wie er sogar jüdische und palästinensische Schülerinnen und Schüler dazu brachte, miteinander zu tanzen. Er sagt dazu:

„Das ist die Magie des Gesellschaftstanzes. Er lehrt Sie viele Lebenskompetenzen wie Selbstachtung, Disziplin, Zusammenarbeit und gute Manieren. Die Aufforderung zum Tanzen, das Geleiten im Arm, die Tanzhaltung, all das erzeugt eine respektvolle Beziehung. Der Gentleman, der eine Lady fragt ‚Darf ich um diesen Tanz bitten?‘, ihre Antwort ‚mit Vergnügen‘ – dann begleitet er sie auf die Tanzfläche und nimmt sie in die Umarmung. Wenn Sie jemanden mit solchem Respekt behandeln, wird er diese Geste beantworten, und Sie befinden sich nun in einer Beziehung des Gebens und Nehmens.

https://milongafuehrer.blogspot.com/2017/02/pierre-dulaine-may-i-have-this-dance.html

In der gesellschaftlichen Diskussion beklagen wir derzeit eine Verrohung der Sitten. Ich glaube, ganz allgemein nimmt bei manchen Leuten die Vorstellung zu, die ganze Welt müsse sich um ihren Hintern drehen. Und selbstverständlich hat man nur Rechte – Pflichten lehnt man empört ab. Ich darf, ich muss nicht, es ist mein gutes Recht..." Für mich nur das Beste – ich, ich, ich…

Jeder Gast einer Milonga sollte die Verantwortung dafür fühlen, dass es für alle ein schöner Tanzabend wird. Und dazu gehört für mich ganz selbstverständlich die Bereitschaft, auf Tanzangebote einzugehen. Sicher gibt es Ausnahmen, aber auch bei verständlichen Ablehnungen sind Takt und Fingerspitzengefühl nötig – Diplomatie statt Holzhammer. Und bis zum Beweis des Gegenteils nehme ich an, dass man zum Tango geht, um zu tanzen – und nicht, um Körbe zu verteilen.        

Aber keine Angst: Ich werde nun nicht in eine „Selbstwert-Krise“ fallen, wie meine Leserin befürchtet. Nach über 55 Jahren auf dem Parkett kann mich kaum noch etwas erschüttern.

Ich werde allerdings ebenso wenig verschweigen, was ich beim Tango für asozial halte. Das müssen auch alle ertragen, die anderer Ansicht sind – ohne ihr Ego abstürzen zu sehen!

Quelle: https://milongafuehrer.blogspot.com/2024/05/liebes-tagebuch-82.html?showComment=1715620876208#c7943169535712089315

Und zur seelischen Entspannung lassen wir uns von Pierre Dulaine und Yvonne Marceau noch einmal zeigen, was Tanzen sein könnte:

https://www.youtube.com/watch?v=qHlQAbNOdwQ

P.S. Zum Weiterlesen:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2019/02/mehrere-seiten-einer-medaille.html

Kommentare

  1. Ojeeee, schon wieder ein Korb. Dabei hat mein herzallerliebster Riedl doch mal geschrieben, dass er nie welche bekäme - nur die Stelle, wo er das geschrieben hat, will er halt so gar nicht finden ...
    Also: husch, husch ins Körbchen!
    T.S. - und schon wieder zensuriert.

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    1. Tja, mein Lieber, da gilt immer noch die Beweislast: Wer etwas behauptet, muss es auch belegen. Das ist Ihnen nicht gelungen. Schade...

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  2. Nun, auch gesellschaftliche Konventionen werden lediglich von Menschen konstituiert, denen diese gefallen und zumeist auch nützen. Und sie ändern sich im Laufe der Zeit. Haben in Deiner Tanzschul-Jugend die Mädels aktiv aufgefordert? Dieser Teil der sozial erworbenen Regeln kann Dir in Deinem Wertesystem nicht gefallen, und darum arbeitest Du dagegen. Andere Teile möchtest Du behalten. Beides is ja auch völlig legitim.

    Es belastet in der Tat, wenn man bemerkt, dass Blickkontakte deutlich vermieden werden. Aber was könnte die Alternative sein, wenn Blickkontakt gemeinhin als sofortige oder spätere Bereitschaft zum Tanzen verstanden wird? Die nötige Erfahrung, um zumindest abseits von einer Aufforderung anderen Personen Beachtung zu schenken, sehe ich nur selten auf Milongas.

    LG Martin

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    1. Lieber Martin,

      gesellschaftliche Konventionen sollten allen nützen – und das tun sie meistens auch. Und klar, sie ändern sich im Lauf der Zeit. Leider nicht im Tango – da besteht man weiterhin auf angeblichen Traditionen aus der Mitte des letzten Jahrhunderts.

      Unter Benimm-Experten und Tanzlehrern herrscht heute weitgehend die Auffassung, auch Frauen dürften auffordern – und zwar in der Weise, die in Europa grundsätzlich seit dem Wiener Kongress üblich ist. Heute halt in eher lockerer Form. Ich habe dazu mal in einem Artikel meine Recherchen veröffentlicht:
      https://milongafuehrer.blogspot.com/2016/02/kleine-ball-etikette.html

      Zum Thema „Blickkontakt“ beschreibst du zutreffend einen Nachteil des Cabeceo. Ich frage mich halt, wieso man oft hartnäckig daran festhält.

      Danke und beste Grüße
      Gerhard

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  3. Mein Blogger-Kollege Helge Schütt hat in einer „Kurznotiz“ beschrieben, dass es für ihn noch einen anderen Grund gibt, wieso er fallweise mit einer Frau nicht tanzen möchte:

    Wenn er beispielsweise üben wolle, nur mit dem Oberkörper zu führen, kämen für ihn auf einer Milonga Damen nicht in Betracht, welche nur auf Abstand tanzen wollten. Die sind dann wohl die falschen „Übungsobjekte“.
    Quelle: https://helgestangoblog.blogspot.com/2024/05/kurznotiz-8-warum-ich-nicht-mit-dir.html

    Mir fällt dazu eine Geschichte aus meiner Tanzschulzeit ein: Auf den dortigen Bällen spielte damals oft die Gruppe „Los Esperitos“ – vier ziemlich bejahrte Herren in dunkelblauen Glitzersakkos. Da wir gerade den Paso Doble lernten, fragte ein Kumpel den Chef der Musiker, ob sie mal ein solches Stück spielen könnten. Dessen Antwort: „Nein, wir sind noch im Aufbau“.

    Für uns Pubertäter war das ein halbes Jahr lang der fortwährende Spruch…

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  4. Robert Wachinger4. Juni 2024 um 14:59

    Als Mann habe ich es vergleichsweise einfach, wenn ich mit einer Frau nicht tanzen will: ich fordere sie einfach nicht auf ;-)
    Und keine Frau muss mir gegenüber begründen, warum sie mir grad nen Korb gibt. Wenn sie mir keine (gute) Begründung, warum jetzt gerade nicht, gibt, bedeutet
    das allerdings, dass ich sie auch nie mehr auffordern werde (so nachtragend bin ich durchaus ...).
    Ein weiterer Grund (für mich), eine Frau nie mehr aufzufordern ist, wenn sie mir einen Korb wg "ich mach grad Pause/bin grad ko/o.Ä." gibt und beim nächsten (Rangmässig offenbar über mir Stehendem) sofort aufspringt, um mit ihm zu tanzen (einmal so erlebt) ;-)
    Ach ja: keine Frau MUSS(!) mit mir tanzen, aber ich nehme mir natürlich das Recht heraus, die jeweilige Frau in eine "interne Liste" (in meinem Kopf) zu packen ;-) , eben auch je nachdem wie sie sich mir gegenüber verhalten hat.

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    1. Lieber Robert,

      na ja. manchmal fordern ja auch Frauen auf. Wenn ich mich nicht täusche, nimmt dieser Trend zu. Glücklicherweise.
      Ansonsten: Ja, sehe ich auch so. Keine Frau muss mit mir tanzen oder mir irgendwas begründen. Wie ich sie dann einordne, ist aber meine freie Entscheidung.

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