Stock und Hut steht ihr gut…

Ich wollte zum folgenden Thema eigentlich nichts schreiben, da es sehr privat ist. Aber nachdem gewisse Vorfälle nicht abreißen, möchte ich die Sache doch einmal darstellen. Natürlich hat die betroffene Person den Text gegengelesen und akzeptiert.

Eine Tangokollegin hatte vor fast einem Jahr einen Schlaganfall. Ich habe die Geschichte von Anfang an erlebt und praktisch alle Krankheitsstadien mitbekommen.

Sie ist derzeit immer noch nur begrenzt belastbar und leidet vor allem an Seh- und Gleichgewichtsstörungen. Dennoch ist ihr Zustand nicht mehr mit dem anfänglichen vergleichbar – sie hat sich vom Rollstuhl über Rollator bis zum Spazierstock (oder den Walking-Stöcken) mit großer Energie durchgekämpft.

Aufgrund anderer Erfahrungen vermutete ich schon zu Beginn, dass ihr Tanzen leichter fallen würde als Gehen. Daher haben wir bereits in der Reha wieder die ersten Tangoschritte hinbekommen. Und sie tanzt inzwischen auf den Milongas, wobei es nicht immer für drei oder vier Stücke reicht. Das ist stark von der Tagesform abhängig.

Zu den Tangoveranstaltungen erscheint sie stets mit einem Spazierstock, da ihr das „freihändige“ Gehen, gerade im Gewusel vieler Leute, immer noch ziemlich schwerfällt. Ihrem Tanzen sieht man dagegen die Defizite nur an, wenn man sehr genau hinguckt. Und das gibt ihr natürlich viel Auftrieb.

Ihr Wunsch war es von Beginn an, die Sache mit ihrer Erkrankung möglichst nicht breitzutreten. Genaueres wussten nur wenige nahestehende Menschen. Und man möchte in dieser Situation ganz bestimmt nicht Hinz und Kunz genauer erklären, worum es geht.

Leider hatten wir nicht mit der grenzenlosen Neugier der Tangoszene gerechnet. Eine Tänzerin mit Stock? Ja, wie passt das denn zusammen? Das veranlasst dann Leute, die wir nur vom Sehen kennen, unserer Kollegin geradezu nachzustellen und keine Ruhe zu geben, bis der Wissensdurst halbwegs gestillt ist.

Erst neulich gab es wieder eine solche Situation: Eine Tanguera, die normalerweise kaum ein Wort mit uns wechselt, fragte sie nach dem Spazierstock. Wieso sie denn einen dabeihabe? Die Antwort: „Weil ich ihn brauche.“ Aber wozu denn? „Weil ich sonst umfalle“. „Warum kannst du dann ohne Stock tanzen?“ „Da habe ich nicht zwei, sondern vier Füße.“ Ja, aber um welche Behinderung es denn gehe?

In dieser Lage (Garderobe beim Schuhwechsel) kann man nicht mal flüchten – bliebe nur noch die krasse Entgegnung: „Das geht dich einen Dreck an!“ Doch will man so weit gehen und einen Eklat provozieren? Also dann: „Ich hatte einen Schlaganfall“.

Als die Fragerin sich – nebst einer tollen Geschichte zum Weitertratschen – entfernt hatte, sagte ich zu meiner Kollegin: „Hätte ich mich mal nach ihrer gynäkologischen Situation erkundigen sollen?“

Ich finde das ganz schön stark: Kein Arzt, kein sonstiger Therapeut darf Gesundheitsinformationen seiner Patienten ohne Erlaubnis weitergeben. Da herrschen Schweigepflicht und strenger Datenschutz. Auf Milongas aber wird man praktisch genötigt, persönliche Daten über seine Erkrankung preiszugeben! Und dies sehr oft an Leute, die man höchstens oberflächlich kennt. Man merkt sehr deutlich, ob jemand ein ernsthaftes persönliches Interesse hat oder nur ein Klatschthema sucht.

Als bei mir vor etwa 15 Jahren eine Krebserkrankung auftrat, hatte ich leider nicht die Chance, sie zu verheimlichen – eine plötzliche Glatze durch die Chemo ist halt ziemlich eindeutig. Und als Lehrer muss man die auch seinen Schülerinnen und Schülern erklären. Dennoch hielt ich die Auskünfte so knapp wie möglich.

Ich lernte damals einen interessanten Effekt kennen: Wenn das „K-Wort“ fällt, betrachten die meisten das Schicksal als besiegelt. Dass ich damals betonte, die Prognose sei ganz gut, die Therapien schlügen an, haben mir einige nicht geglaubt. Erwartet wurde offenbar mein baldiges Dahinscheiden. Dass ich nach einem oder zwei Jahren noch lebte und ziemlich gesund wirkte, brachte viele ins Grübeln: Da konnte doch irgendwas nicht stimmen!

Bei meinem Chef war es ähnlich: Zuerst regte er an, ich möge mich doch länger krankschreiben lassen – was ich nicht tat, da mich die Arbeit ablenkte. Nach einigen Monaten aber fand ich meinen Namen wieder auf der Liste von Vertretungsstunden, Aufsichten und anderen Zusatzarbeiten. Ich musste einige Male vehement auf meinen Schwerbehinderten-Status hinweisen, der mich von solchen Jobs befreite.

Leider sind diese sozialen Rechte vielen nicht bekannt. Daher mein heißer Tipp: Beantragt in solchen Fällen beim Versorgungsamt („Zentrum Familie und Soziales“) einen GdB (Grad der Behinderung) von mindestens 50 – dann gilt man als schwerbehindert, was eine Menge von Vergünstigungen mit sich bringt: von Steuervorteilen bis hin zum Kündigungsschutz. Und tretet dem VdK bei! Dort arbeiten ausgeschlafene Fachleute, die euch in allen Fragen des Sozialrechts beraten und vertreten!

Zurück zum Tango: Ich finde, er sollte kein Ort sein, wo man sich gezwungen sieht, sensible persönliche Daten zu veröffentlichen. Selber möchte ich von einer Tanzpartnerin eigentlich gar nichts wissen – nicht mal den Vornamen, den ich mir eh nicht lange merken kann. Wichtig ist mir lediglich die wortlose Kommunikation auf dem Parkett. Und Tanzstile merke ich mir oft jahrelang. Und klar, in Einzelfällen kommt es zu engeren Freundschaften. Dann tauscht man sich aber vor allem außerhalb der Milongas aus.

Leider scheint für nicht wenige der Tango eine Art von Seelenmüll-Deponie zu sein, wo sie anderen mit ellenlangem Gelaber auf den Geist gehen können – und natürlich im Gegenzug erwarten, selber mit zusätzlichem Tratsch-Trash versorgt werden. Ich meide solche Situationen, so gut es geht – und als Raucher bleibt mir immerhin die Flucht vor die Tür. Bekanntlich darf man heute im Innenraum die Luft nicht mehr mit echtem Rauch verpesten – nur noch mit Psycho-Qualm und schlechter Musik.

Schwere Erkrankungen bedeuten für die Patienten eine heftige Lebenskrise. Jemanden ungebeten darauf anzusprechen kann zu einer Retraumatisierung führen. Sprich: einem psychischen Absturz. Sie besuchen Milongas nicht, um über ihre Krankheit zu sprechen. Dann würden sie Selbsthilfegruppen wählen. Im Gegenteil wollen sie ihre Handicaps für einige Zeit vergessen. Daher sollte man seine Neugier bezähmen und die Klappe halten.

Gerade im konservativen Tango beschwört man andauernd die erforderliche „Achtsamkeit“, lässt die seelische Verbindung zwischen den Tanzpartnern hochleben. Und gar nie nicht darf man einen Menschen, dem man noch nicht vorgestellt wurde, direkt wegen eines Tanzes ansprechen. Das sei nötigend!

Und man beklagt die schweren seelischen Krisen, die entstehen, wenn man ein Paar in der Ronda überholt oder sonst wie aus seiner träumerischen Versunkenheit reißt. Geht gar nicht!

Was offenbar schon geht, ist, andere um einer genauere Darstellung seines Gesundheitszustands zu ersuchen. Daher ist jemand, der mit einem Stock zum Tanzen erscheint, dringend auskunftspflichtig! Schließlich weicht er ja von der Norm ab – und das ist im heutigen Tango gar nicht gut…

Wie wäre es alternativ mit der Ansprache:

„Steht dir gut, der Stock – find ich cool!“

Illustration: www.tangofish.de

Kommentare

  1. Leider hat deine Bekanntschaft auf diese Frage nicht schnell genug reagiert. Die einzige vernünftige Antwort wäre gewesen: "Das ist jetzt Mode, wusstest du das nicht? Wie, du gehst ohne Stock zum Tango? Ja bist du denn aus der Zeit gefallen?"

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    1. Tja, manchmal fallen einem die einfachsten Sachen nicht ein!

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  2. Vielleicht sollten wir jetzt alle anfangen, mit Stock zu Milongas zu gehen... :-)

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  3. Btw...im orientalischen Tanz wird auch mit Stock getanzt:
    https://m.youtube.com/watch?v=gWaf5V207qM&t=86s&pp=ygUOa2FyaXptYSB0cmliYWw%3D

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    1. Sehr interessant!
      Leider führt der Link ins Nirwana. Vielleicht kannst nochmal nachschauen.

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    2. https://youtu.be/gWaf5V207qM?si=mBBwrkvb9SkvHGDh

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    3. Geht leider immer noch nicht. Kannst du den Titel des Videos nennen? Dann suche ich selber dananch.

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  4. Komisch, bei mir funktioniert der Link...
    KariZma Tribal Style Stocktanz

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