Zwischenruf

 

Heute veröffentlichte eine Münchner Tango-Profi*in einen Text des berühmten Carlos Eduardo Gavito (1942-2005). Der bekannte Tänzer und Choreograf wird gerne in der konservativen Szene zitiert. Ich habe seine Aussagen übersetzt:

„Der Tango hat keine Besitzer, er ist das Schönste, was es gibt, weil er so frei ist.

Menschen in meinem Alter und älter als ich können das Schönste am Tango genießen: die Umarmung.

...die Umarmung muss als das genommen werden, was sie wirklich ist: diese menschliche Wärme, die wir alle brauchen.

Auf einem Schiff, auf dem ich arbeitete... sagte mir ein Amerikaner: „Mein Herr, das ist kein Tango...“.

Der Mann, der beim Tangotanzen die Frau nicht wie eine Königin aussehen lässt, wird nie ein König sein.

Die Frau lässt sich mitreißen und schließt die Augen im Vertrauen auf dich, im Vertrauen auf die Umarmung und darauf, dass du sie führst... deshalb hat sie mehr Tugend als derjenige, der schaut, sieht und drängt.

Der Tango gleicht, im Gegensatz zu anderen Tänzen, die sozialen Klassen aus.

Die Milonga ist eine Kathedrale... der Tango ist eine Religion.“

Quelle:

https://www.facebook.com/martha.giorgi/posts/pfbid02Vzm92Lwhq7nn42cG2Z8dkWy4dwXqp4s4ZnHSegYKaPHbss9VvWs4DGGQzFm1K9Byl

Auf die Gefahr hin, nun wieder der Majestätsbeleidigung geziehen zu werden: Ich habe selten so viel Müll auf einmal gelesen!

Ja, der Tango könnte frei sein. Ist er aber nicht. Seit vielen Jahren wird er zunehmend von Reglements eingeschränkt. Man wird belehrt, wie man aufzufordern und zu tanzen habe, zu welcher Art von Musik das geschehen müsse. Stücken, die nicht älter als 60 Jahre sind, wird generell die „Tanzbarkeit“ abgesprochen. Und es gibt viele, die für sich Eigentumsrechte reklamieren, die bestimmen wollen, was Tango sei und was keiner. Gavito zitiert einen solchen Unsinn ja selber.

Alledem zu widersprechen gilt als gefährlich. Da wird man schnell aus der ehrenwerten Gesellschaft ausgeschlossen.

Für mich ist das Schönste am Tango die Musik und der Tanz dazu. Und nicht, dass ich meine sozialen Defizite per Umarmung abbaue. Wer „menschliche Wärme“ sucht, muss deswegen nicht tanzen. Dazu gibt es diverse andere Möglichkeiten wie Tantra-Seminare.

Und sorry, ich möchte gar nicht „König“ sein. Muss ich dann wie Charles mit einer Spekulatiusdose auf dem Hirn rumlaufen und Denkmäler enthüllen? Weiterhin liegt es mir fern, mit einer „Königin“ zu tanzen. Eine tolle Tanguera wäre mir lieber. Ich bin ein Gegner der Monarchie!

Die Mär von der „tugendsamen“ Frau, die sich ohne jede Eigeninitiative der „Führung“ unterwirft, stammt aus der Muschelkiste. Paartanz ist ein wechselseitiges Geben und Nehmen, keine geschlechtlich bedingte Unterordnung.

Der Tango als „klassenloses“ Vergnügen? Geht’s noch? Die Unterschicht, in welcher diese Musik, dieser Tanz einst entstand, ist in der heutigen Szene kaum noch vertreten. Und es ist eine Menge Schotter nötig, um sich entsprechend einzukleiden und zu teuren Festivals durch halb Europa zu reisen, jede Menge Unterricht zu bezahlen. Unser Tanz ist längst den Hinterhöfen entwachsen und in vornehmen Ballsälen angekommen. Das merkt man ihm auch an.

Schließlich: Ich gehe zu einer Milonga nicht, um zu beten, sondern um zu tanzen. Und die Predigten irgendwelcher Hohepriester zum „Tango-Katechismus“ mag ich nicht widerspruchslos hinnehmen.

Ist Tango eine Religion? Muss man also an etwas glauben, um dabei zu sein? Wenn schon, dann hat er einige der negativen Eigenschaften von Religionen: Vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Gaza-Konflikt kloppt man einander, weil der andere einen abweichen Gott verehrt. Und im Tango zieht man übereinander her, da Kollegen einen unterschiedlichen Musikgeschmack haben, anders tanzen. Wo sind die Milongas, wo noch für alle Platz ist, man die verschiedenen Auffassungen nebeneinander bestehen lässt? Sie sind inzwischen selten geworden!

Ende des Zwischenrufs! Lassen wir Carlos Gavito noch ein wenig tanzen. Das kann er nämlich richtig gut. Auch wenn mir sein Dominanzgebaren überzogen scheint. Was ihm zu unserem Tanz einfällt, hätte er sich jedoch sparen können – zumal es nur zum Marketing des „Schmonzetten-Tango“ verwendet wird. Den Kunden wird auf diese Weise eingeredet, dass sie an etwas „Höherem“ Anteil haben. Und genau das stimmt halt nicht: Tango ist ein Gesellschaftstanz. Nicht weniger, aber auch nicht mehr!

https://www.youtube.com/watch?v=tir5_m6E4lc

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