Volle und leere Tassen

 

Wenn ich Texte anderer Autoren bespreche, gebe ich mir große Mühe mit den Übersetzungen, Zitaten und Zusammenfassungen. So auch beim Artikel „Gefühle im Tango lehren“ von Ivica Anteski. Damit die Sache nicht zu langatmig wird, erlaube ich mir Kürzungen. Regelmäßig heißt es dann von Kritikern, ich würde „aus dem Zusammenhang reißen“ respektive ich hätte einen wichtigen Aspekt weggelassen.

Im konkreten Fall ging es um die Feststellung des Autors: „You can’t fill a cup if it’s not empty – so help them empty the cup." Man könne eine Tasse nicht füllen, die nicht leer sei. Also müsse man den Auszubildenden erstmal helfen, das Ding auszugießen. Anteski meint damit wohl, um die Schönheiten der „innigen Umarmung“ kennenzulernen, habe man zunächst Panik und Verkrampfungen zu beseitigen. Sein Rezept: Die Paare müssten sich längere Zeit bewegungslos, aber feste umarmen. Intime Nähe als Herausforderung!

Ich stelle mir dabei ein Paar im tangotypischen Alter von knapp Sechzig vor: Kinder aus dem Haus, Hund tot, ein neues Hobby muss her! Im Anfängerkurs werden sie dann von einem „strengen Lehrer“ (Selbstbeschreibung Anteski) genötigt, einander minutenlang und bewegungslos zu umarmen. Eventuell sogar einen anderen Partner, den sie gar nicht kennen. Da kommen sicher Freude sowie nachheriger Gesprächsbedarf auf! Ob die beiden zur nächsten Unterrichtsstunde noch erscheinen (jedenfalls zu zweit), darf bezweifelt werden.

Was ich anzubieten hätte, um „die Tasse erst einmal leer zu machen“, fragt mich jener Kommentator. Nun, ich bin kein Tangolehrer, aber selbst als der würde ich mir nicht anmaßen, emotionale Blockaden oder Verarmungen zu therapieren. Da wildere ich nicht im Feld professioneller Seelenklempner.

Einmal geriet ich in eine solche Situation, als eine gute Bekannte sich angesichts des Tango das „Hach, das möchte ich auch können-Syndrom“ zugezogen hatte. Tragischerweise wurde ich auserkoren, den Mangel zu beseitigen. Ich versuchte das in vielen Stunden intensiven Trainings – ohne jeden Erfolg. Krampf bleibt Krampf – da helfen höchstens Pillen! Die Geschichte endete vorhersehbar: Die Dame suchte sich andere Hobbys.

Wie ich mir effektiven Tangounterricht vorstelle, habe ich öfters dargetan:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2022/05/so-konnte-tangounterricht-sein.html

Vor allem würde ich die Paare nicht sofort aufs Aneinanderpappen konditionieren, welches freie Bewegungen stark einschränkt und fallweise Seelenqualen verursacht. Eher sollte erstmal jede und jeder für sich allein agieren. Durch lockeren Kontakt kann man dann versuchen, eine Verständigung anzubahnen. Für mich ist die Basis des Paartanzes, dass sich der Einzelne allein gut bewegen kann.

In unserer Facebook-Gruppe berichtet ein Kommentator, eine Südamerikanerin habe zu ihm gesagt: Müssen wir wirklich mit einer offenen Umarmung tanzen? Ich tanze seit 25 Jahren Tango Argentino und bin den engen Kontakt gewohnt. Wenn ich diesen Kontakt nicht habe, kann ich nicht vernünftig tanzen."

Dies führt ihn zu der Einsicht: Nach meiner Erfahrung sind es eher die schlechteren Tänzerinnen, die ein Problem damit haben, sich auf eine enge Umarmung einzulassen.“

Quelle: https://www.facebook.com/groups/1820221924868470 (Post vom 16.5.24)

Ich kann inzwischen ganz gut unterscheiden, ob eine Tänzerin vor mehr als 15 Jahren Tango gelernt hat oder es noch nicht so lange her ist: Die einen tanzen selber, die anderen wollen betanzt werden. Klar, die zitierte Latina ist darauf  dressiert worden, sich wie beim Tandem-Fallschirmsprung an den Partner zu klammern und sich bewegen (oder fallen) zu lassen. Kann man machen – eine besondere Kunst  sehe ich darin nicht.

Für mich ist die ewige Debatte um die „richtige“ Tanzhaltung eine Chimäre. Die ist doch von vielen Umständen abhängig, also total situationsbezogen! Selber halte ich Tänze, bei welchen sich dreieinhalb Minuten Abstand und Kontaktart nicht ändern, für ziemlich langweilig. Wenn Partnerinnen selber aktiv werden wollen, gebe ich ihnen gerne den Platz dazu. Warum nicht den linken oder rechten Arm wegnehmen und sehen, was dann passiert? Mal eine Solodrehung probieren? Eine Schattenposition? Man hat eine Menge Möglichkeiten!

Sicherlich gibt es bei vielen Tangostücken innige Passagen, wo man große Nähe suchen kann. Und wenn ich merke, dass dies meiner Partnerin gefällt, gibt es noch ein paar „Close Ups“ extra. Sollte sie darauf weniger Wert legen, dann eben nicht. Das alles sagt sie mir doch – falls man die Kommunikation ohne Worte beherrscht!

Glücklicherweise kenne ich noch etliche Tänzerinnen der „früheren Generation“, die sich selber bewegen wollen und daher gar nicht erwarten, dass ich ihnen in jeder Sekunde signalisiere, wo es hingehen soll. Wenn solche Frauen dann mal das Kommando übernehmen und mir zeigen, wo der Hammer hängt, entsteht ein Flow, welcher für mich den Suchtcharakter des Tango begründet. Die Musik führt – niemals nur der eine oder andere Tanzende!

Wenn dagegen eine Tanguera den Rollator geben möchte, den ich irgendwo hinschieben soll, hoffe ich inständig, dass der DJ nur drei und nicht vier Stücke auflegt!

Ich weiß, dass Artikel wie diese viele nicht überzeugen werden. Der einstmals „wilde“ Tango wird heute am Nasenring gemächlich durch die Ronda geführt. Muss ja auch alles seine „Ordnung“ haben…

Aber um nun noch eine seltsame Metapher zu entsorgen: Was machen wir mit Herrn Anteskis Tasse? Ich finde, er sollte sie zurück in den Schrank stellen. Dann hätte er wieder alle.

P.S. Mein heutiges Video soll einem namenlosen Tangopaar die Ehre geben. Ich meine, was die beiden im Straßengewusel und auf ein paar Quadratmetern präsentieren, bietet ganz schön viele Optionen von Abstand und Tanzhaltung.

Hoch die Tassen!

https://www.youtube.com/watch?v=F9sEz_mReHM

Kommentare

  1. Solange sie ein solches Rumgehopse in irgend einer Form gut finden oder anstreben brauchen Sie sich nicht wundern wenn auf einer normalen Veranstaltung keiner mit Ihnen tanzen will. Cassiel hatte recht. Es gibt figurenorientierten und bewegungsorientierten Tango. Gehen Sie bitte auf ihre komischen Milongas, wo die Beine wild durch die Luft fliegen und lassen sie uns den Spass, auf unseren Milongas fein auf die Musik zu tanzen. Dort möchten wir keine Typen wie Sie!!! Bin gespannt ob sie es in dieser Inkarnation noch verstehen werden, dass es (mindestens) zwei Tanzstile gibt, welche auf der selben Tanzfläche nicht harmonieren. Herrschaftszeiten. So schwer ist das doch nicht! Es gibt doch genug Neo-non Tango in der Welt. Gehen Sie da hin! Und wenn Sie sich zu uns verirren, dann finden Sie den Cabeceo nur schlecht weil sie Ihn nicht beherrschen. Hätten Sie bei Frau Sedó ein "Blinzelseminar" besucht, dann würden sie jetzt nicht so blöd aus der Wäsche gucken. Hätten sie einmal erlebt, dass man auf einem Quadratmeter den Himmel auf Erden erleben kann (solange keine Pistenrambos wie Sie anwesend sind) würden sie Ihr lächerliches Geschwurbel sofort einstellen und den Rest ihres Lebens auf Encuentros verbringen. Ich fürchte aber leider, dieses Glück wird Ihnen nie beschieden sein.
    Alles gute noch auf Ihrem granteligen Meckerweg,

    Bernhard Ihner

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Besten Dank! Meine Antwort und Besprechung finden Sie in meinem neuen Artikel: https://milongafuehrer.blogspot.com/2024/05/herrschaftszeiten.html

      Löschen
  2. Das Paar tanzt fantastisch
    Ralph Byrszel

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Ja, und das unter diesen Umständen!

      Löschen

Kommentar veröffentlichen

Hinweis zum Kommentieren:

Bitte geben Sie im Kommentar Ihren vollen (und wahren) Namen an und beziehen Sie sich ausschließlich auf den Inhalt des jeweiligen Artikels. Unterlassen Sie herabsetzende persönliche Angriffe, gegen wen auch immer. Beiträge, welche diesen Vorgaben nicht entsprechen, werden – ohne Löschungsvermerk – nicht hochgeladen.
Sie können mir Ihre Anmerkungen gerne auch per Mail schicken: mamuta-kg(at)web.de – ich stelle sie dann für Sie ein.