Business Aires
„If you're going to San Francisco,
be sure to wear some flowers in your hair.
If you come to San Francisco,
Summertime will be a love-in there.“
be sure to wear some flowers in your hair.
If you come to San Francisco,
Summertime will be a love-in there.“
(Scott
McKenzie, John Phillips, 1967)
„Ja
anno siebzig einundsiebzig
waren
sie alle wieder da,
die Wandervögel, zogen dahin
die Wandervögel, zogen dahin
auf
Wallfahrt zum Big Zeppelin.“
(Franz
Josef Degenhardt, 1971)
Im
letzten Jahr veröffentlichte die Grazer Musikethnologin Dr. Kendra Stepputat einen
hochinteressanten Text:
TANGO JOURNEYS – GOING ON A
PILGRIMAGE TO BUENOS AIRES
Zu
Deutsch: Kann man die massenhafte Reisetätigkeit von Tangosüchtigen aus aller
Welt in die Metropole am Rio de la Plata als „Pilgerfahrt” bezeichnen?
Die
Wissenschaftlerin kommt hierbei zu Aussagen, welche von mir sein könnten – nur würde
dies dann von gewisser Seite mit höchster Skepsis aufgenommen. Daher habe ich Passagen
ihres Texts aus dem Englischen übersetzt.
Eine
solche Reise basiere nicht nur auf dem Wunsch, die heutigen Örtlichkeiten
kennenzulernen, sondern sich mit der Vergangenheit zu verbinden, welche häufig romantisiert
und idealisiert werde: In Buenos Aires seien Tangotänzer auf der Suche nach der
Època de Oro: „In den meisten
professionellen Milongas heute, überall in der internationalen Tangoszene, wird
nur Musik aus jenem Zeitraum gespielt. Zusätzlich sieht man in den letzten
zehn Jahren eine starke Zunahme der Tanzstile, die versuchen, Tanzweisen
anzupassen, zu kopieren oder zu rekonstruieren, welche es vor den modernen
Entwicklungen der späten 1980-er Jahre gab.“
Diese
Tanzstile konzentrierten sich auf eine enge Umarmung, einen intensiven
Körperkontakt und eher kleine Bewegungen. Derzeit folgten die meisten
Tanzenden diesem Trend und intensivierten ihr Wissen um das Musikrepertoire aus jener Zeit: „Das Goldene Tangozeitalter stellt die idealisierte Vergangenheit
der momentanen internationalen Tangokultur dar, eine Zeit, zu welcher der
heutige Tangoanwender nicht gehörte, aber gerne gehört hätte.“
Buenos
Aires, wo das alles stattfand, biete sich geradezu als Bindeglied zu diesen
versunkenen Zeiten an – hier zeige sich die wahre Bedeutung des Tango als
immaterielles Kulturerbe.
Ich
finde, Kendra Stepputat beschreibt das Elend ganz zutreffend: Der heute
vorwiegend praktizierte Tango lebt von Nostalgie, ja geradezu Vergangenheits-Verklärung
– natürlich aber „Tango light“ ohne die damalige autoritäre
Klassengesellschaft, die Unterdrückung der Frauen, Diktaturen und
Infektionskrankheiten… Lediglich das „Weltkulturerbe“ hat die UNESCO anders
gemeint, da diese Organisation eindeutig auch das Multikulturelle und die neuen
Tangoentwicklungen im Blick hatte.
Tangotanzende,
welche in Buenos Aires waren, würden – bewusst oder unbewusst – eine Steigerung
ihres Selbstvertrauens erfahren. Dies könne sich durchaus auf das „tägliche
Tangoleben“ auswirken, wie die Autorin aus eigener Erkenntnis zu berichten weiß:
Nachdem sie 2015 drei Wochen in der argentinischen Hauptstadt verbracht hatte, sei
sie daheim viel mehr zum Tanzen aufgefordert worden – auch wenn die Tänzer sie gar
nicht kannten oder ihre Fähigkeiten beobachtet hätten. Dies entspreche auch den
Erfahrungen von Tangobekannten ähnlichen Hintergrunds.
Rückkehrer
aus Buenos Aires hielten sich wahrscheinlich anders, vielleicht aufrechter, mit
einem festen Blick und einem „wissenden
Lächeln“, basierend auf einem speziellen Stolz, nun zur Gemeinschaft derer zu
gehören, welche diese Reise unternommen hätten. Diese Attitüde würde wohl den Eindruck
bewirken, man sei ein besserer Tangotänzer.
„Schließlich entsteht
ein signifikanter Wechsel im sozialen Status eines Tanzenden innerhalb der
Tangogemeinschaft.“ Die
Tangoszenen seien stets hierarchisch strukturiert, mit einem elitären lokalen
und internationalen Netzwerk. „Der Rang
eines Szenemitglieds hängt im Allgemeinen von seinen tänzerischen Fähigkeiten,
seiner Rolle in der lokalen Szene und der Dauer seiner Zugehörigkeit ab.“
Wie die Mekka-Pilger im Islam würden die in Buenos Aires Gewesenen von ihrer
heimischen Szene mit „mehr Respekt und
höherer Achtung“ behandelt.
Offene
Geringschätzung gegenüber den „nicht dort Gewesenen“ gebe es zwar nicht, aber
die „Insider-Perspektive“ zeige sich ja schon in persönlichen Berichten über
dortige Milongas und Tanzschuh- sowie Kleiderkauf. Dies führe natürlich zu
einem Aufstieg im Ranking.
Ein
Muss schließlich sei die Pilgerfahrt für diejenigen, welche eine Karriere als
Tangolehrer oder Showtänzer vorhätten. Nur so werde ihr Status als „fortgeschrittene,
kenntnisreiche und ernsthafte Tangotänzer“ legitim und authentisch. Natürlich
aber sei Authentizität in der Kunst „kein messbarer, objektiver Begriff“ – im
Gegenteil: „Die Anwesenheit oder Abwesenheit von Echtheit ist eine
verhandelbare Einheit, die auf dem Urteil und der Bewertung sowohl des
Praktizierenden als auch des Beobachters beruht.“
Im
Tango argentino jedoch nehme man meist an, „dass Lehrer aus Buenos Aires über
größere Fähigkeiten verfügen, da sie eingebettet in die ‚originale' Szene und
die empfundene Nähe zum Ursprung des Tango sind. Wenn Lehrende kein solche
‚Ursprungs-Zertifikat‘ vorweisen können, ist die nächstbeste und einzige
Option, nach Buenos Aires zu reisen.“
Mit
religiösen Pilgerfahrten vergleichbar sei schließlich auch das Mitbringen von „Reliquien”
wie Tanzkleidung und besonders vielen Schuhen. Ein bisschen zum Selbstschutz
fügt sie hinzu: „Tangoreisen nach Buenos
Aires weisen bestimmte Merkmale weltlicher Pilgerreisen auf, obwohl Tangueros
und Tangueros dies nicht so empfinden mögen.“
Na,
da hat die Autorin die Kurve ja gerade noch gekriegt, um – trotz ihrer
wissenschaftlichen Tätigkeit – nicht doch von der Grazer Tangoszene exkommuniziert
zu werden. Dennoch ist ihre kabarettistische Begabung unübersehbar!
Da
mich Verbannungen bekanntlich nicht schrecken, darf ich ihre Gedanken noch
etwas geradliniger weiterführen: Offenbar geht es ja gar nicht so sehr um die
tatsächliche Anwesenheit in der Welt-Tangometropole, sondern um Selbstvertrauen
und Ansehen, welche einem ein solcher Besuch beschert.
Eine
auch hinsichtlich der Kohlenstoffdioxid-Bilanz vorteilhaftere Lösung wäre für
mich die Schaffung europäischer „Tango-Disneylands“: Versierte Architekten und
Bühnengestalter könnten doch sicherlich sowohl berühmte Milonga-Örtlichkeiten
als auch malerische Potemkin-Kulissen von La Boca eins zu eins nachbauen – und die Veranstalter entsprechende
Kleindarsteller eher fortgeschrittenen Alters auf Ein-Euro-Job-Basis als bejahrte
Milongueros beschäftigen, welche fortgesetzt von den guten alten Zeiten
brabbeln. Das Ganze natürlich garniert mit Halbweltdamen und dreimal täglich
von Stuntmen aufzuführenden kreolischen Messerduellen sowie Knistermusik-Dauerbeschallung aus extra schlecht eingestellten Erb-Anlagen. So käme auch der
geringverdienende Tango-Aficionado zu seinem exklusiven Mekka-Erlebnis. Ein
zertifiziertes Tango-Diplom (im Fileteado-Stil) wäre natürlich im Eintrittspreis
enthalten.
Nur
zur Sicherheit: Ich beanspruche hiermit die exklusiven Nutzungsrechte für das Label
„Business Aires“!
Hier
der Originaltext:
http://www.dancetangomusic.com/pub/Stepputat-Paper-Tango-Pilgrimage-2016.pdf
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