Mehrere Seiten einer Medaille


Dem Berliner Tangofreund Tom Opitz gelang gestern auf seiner Facebook-Seite ein Beitrag, der zu einer riesigen Zahl von Kommentaren führte. Einleitend stellte er die Frage:

„Wieder sitzen geblieben auf der Milonga? Mein Vorschlag:“

Seine aus meiner Sicht grundvernünftige Anregung:
Deshalb finde ich, dass es schön wäre, wenn einige Milongas es zu einem ihrer explizit veröffentlichten Markenzeichen machen würden, dass die Initiative zur Aufforderung von beiden (…) Geschlechtern ausgehen soll und darf.
Da können dann die Herren, die davor Angst haben, schlicht wegbleiben und Frau weiß, dass alle damit rechnen, selbst aufgefordert zu werden.
Männern eröffnet sich so die (sonst oft nur den Cracks geschenkte) Chance zu fühlen, dass Mann begehrt ist.
Das könnte ja so manchem helfen, über die (auch bei uns nagenden, aber meist nicht so laut verbreiteten) Selbstzweifel hinweg in seine Kraft zu kommen.
Vorschlag
(für die Ankündigung einer Milonga):
‚Auf dieser Milonga sollen sich alle wohl und niemand soll sich ignoriert und nicht zugehörig fühlen! Wir wünschen uns Tänzerinnen und Tänzer, die aktiv (per Cabeceo oder auch mal achtsam verbal) auch auf Unbekannte zugehen!‘"

Ja klar, das Leben könnte so einfach sein! Ist es aber nicht. Wir in Pörnbach machen das zwar seit Jahren völlig problemlos so, aber andernorts übt man sich lieber in Problemwälzung.

Dazu einige Zitate aus der Debatte (wie üblich aus dem Zusammenhang gerissen) inclusive Geschlechterzuordnung:

Tanguera: „Find ich auch gut! Und gleichzeitig müsste man dazu sagen, dass es völlig OK ist, freundlich Körbe zu vergeben. Es gibt 1000 Gründe, gerade jetzt nicht gerade mit Person XY zu tanzen. Dann können sich alle wohl fühlen.“

Tanguera: „Aber... ich will doch gar nicht mit JEDEM und JEDER tanzen. das kann doch unmöglich euer Ziel sein, oder?“

Tanguero: „Mann kann da auch öfter mal ziemliche Luschen aus der Trommel ziehen, wenn mann nicht vorher ‚das Angebot' checkt, so wie viele...“

Tanguera: „Auch ich habe schon etliche Körbe verteilt, eben auch abhängig von vielen Faktoren, wie z.B. ich fühlte mich überrumpelt, weil es keinen Blickkontakt vorher gab; ich fühlte mich in die Enge gedrängt, weil er fordernd den Arm ausstreckte; weil ich mit ihm einfach nicht tanzen mag; weil er ungepflegt ist; weil ich jemand anderen im Visier hatte“

Tanguera: „da ich generell eine direkte verbale Einladung ablehne, egal ob von Mann zu Frau oder von Frau zu Mann (ausgenommen, man kennt sich )“

Tanguera: Für mich kommt aber schon hinzu, dass ich durchaus schon mal Herren auffordere, meist solche, die ich kenne, und dann fühle ich mich so unter Druck, rein psychologisch von mir selbst aus, dass ich nun ja liefern muss, weil ich ja aufgefordert habe, also, dass es besonders schön sein muss... etc... Dass es garantiert nicht klappt!“

Tanguera: „Da kommt dann noch ein anderes Problem ins Spiel, würde ich meinen, dass nämlich vermutlich bei eher jüngeren, eher attraktiveren, eher besseren (um das jetzt mal ganz unbescheiden zu sagen, ist natürlich alles relativ, aber ich nehme mal an, dass ich oft so wahrgenommen werde, wie mir auch schon etliche regelmäßige Tanzpartner selbst gesagt haben) Tänzerinnen wie (…) oder mir selbst z.B. eben dann die Wahrnehmung doch zu sein scheint: Ach, die findet eh schon jemand, die brauch‘ ich nicht aus Solidarität zu betanzen!!!“

Tanguero: „Woher weiß man eigentlich, ob andere nicht sogar gerne sitzen? (…) Ich kenne einige, die lieber gut sitzen als einen für als schlecht empfundenen Tanz erleben zu müssen.“

Ich darf mal zusammenfassen:

Ja, es wäre schon schön, wenn mehr durcheinander und von beiden Seiten aufgefordert würde. Nur sollte es halt der/die Richtige sein, das möchte man dann schon noch per Korb (oder Weggucken) regeln dürfen. Weil – grundsätzlich mit allen zu tanzen: welch schauerliche Vorstellung! Zudem ist es natürlich Frauen unzumutbar, per Aufforderung die „Verantwortung“ für einen gemeinsamen Tanz zu übernehmen, das sollen gefälligst weiterhin die Kerle tun! Zudem ist klar: Vielleicht will man eh lieber sitzen – so wie auch Leute, welche Kugeln hassen, zum Kegeln gehen.
Und nebenbei kann man mal mit zartem Augenaufschlag erwähnen, dass man selbst als tolle Tänzerin (zwinker) öfters rumsitzt...

Wie immer, wenn man im Tango nicht recht weiter weiß, muss das Allheilmittel, der Cabeceo, her. Eine Berliner Tango-Geschäftsfrau erfreute daher die Runde mit einer längeren Erklärung dieser im deutschen Tango weitgehend unbekannten Aufforderungsart. Prospektive Pilger an den Rio de la Plata sollten jedoch wissen:    

„Allerdings kann ich nur empfehlen, die traditionelle Art der Einladung zu üben, wenn jemand nach BA fahren will und sich auf den traditionellen Milongas ausprobieren möchte. Wer die Kunst der Einladung und andere Codigos nicht beherrscht, wird hier eiskalt abserviert.“

Erheiternd ist es für mich ebenfalls, dass man in der Tangoszene offenbar alles Mögliche hat – außer Ahnung vom Gesellschaftstanz:

„Die gängigen Aufforderungsregeln, die sich innerhalb der letzten 130 Jahre Gesellschaftstanz und Tango entwickelt haben, reichen mir aus. So wie es oben von (…) beschrieben wurde, sind es gleichberechtigte, transparente Regeln der Mirada und des Cabeceo, die meistens in einer Milonga funktionieren.“

Nein, wirklich: Wie man 1890 in Argentinien aufgefordert hat, ist mir zwar unbekannt, aber in Europa gilt spätestens seit dem Wiener Kongress (1814-1815): Wer tanzen möchte, geht zu der Dame, macht einen Diener und fragt: „Darf ich bitten?“ Und klar, die Blickelei funktioniert derart problemlos, dass man im Tango seit Jahren verbissen darüber diskutiert!

Ein mildes Lächeln kostete mich auch der Vorschlag:

„Meine Idee: Vielleicht wäre ja auch ein Cabeceo-Training was?“

Na ja, diese Idee hat inzwischen sogar eine berühmte Münchner DJane wohl in die Rumpelkammer verbannt…

Ein Kommentator schließlich wartete mit dem metaphorischen Absturz des Jahres auf:

„Vieles hat so mehrere Seiten einer Medallie.“

Abgesehen davon, dass man eine solche Gedenk- oder Schauprägung „Medaille“ nennt: nein. Falls man den Rand nicht mitzählt, hat sie stets zwei. So ist das auch beim Tango:

Du kannst beim Tango überlegen, was er für dich tun kann – oder was du für ihn leisten willst. Das Verb „müssen“ ist da fehl am Platz: „Muss ich dann mit jeder tanzen?“ Nein, natürlich nicht! Schlechtes Benehmen ist nicht strafbar und gutes kann man nicht erzwingen. Aber es ist ebenfalls nicht verboten, jemand für einen Altruisten oder Egozentriker zu halten.

Dann kämen wir zur einer Aufteilung von Tangoveranstaltungen, die sogar mir gefiele: Die Milongas der Anspruchserheber und die der Chancengeber.  

Klar gibt es beim Paartanz Grenzen der Zumutbarkeit, nur sind diese äußerst selten erreicht. Viel häufiger sind Zurückweisungen auf der Basis des Gefühls, Besseres verdient zu haben. Und dazu habe ich eine ganz schlechte Nachricht: Nein, in der Regel nicht! Und wenn, dann kriegt man es geschenkt und nicht geliefert.      

Daher empfehle ich, die Medaille nicht so lange hin und her zu drehen, bis man ganz viele Seiten zu sehen glaubt, sondern sich lieber zu überlegen, ob man sie zu Recht bekäme…

Quelle: https://www.facebook.com/tom.opitz.77/posts/2310320278987610

Foto: www.tangofish.de

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