Pierre Dulaine: May I have this dance, please?
Auf
das folgende Video brachte mich (wieder einmal) mein Tangokollege Thomas Kröter (den ich auf diesem Wege
herzlich zu seinem gefühlt fünfzigsten Anti-Schulz-Post beglückwünsche…).
Der
bekannte New Yorker Profitänzer und Tanzlehrer Pierre Dulaine erzählt in berührenden Worten, wie der Tanz sein
Leben und das anderer veränderte. Seinen Vortrag könnte die heutige Tangoszene
brauchen wie die Wüste den Regen. Ich habe den Text daher übersetzt:
Hallo, meine Damen
und Herren,
darf ich um diesen
Tanz bitten?
Diese Frage haben
schon viele ausgesprochen – mich eingeschlossen.
Wenn man jemand mit
Respekt berührt, ändert sich etwas. Aber wir berühren einander nicht mehr, bei
all den neuen Technologien, die uns heute umgeben. Viele menschliche Wesen
kommunizieren nicht mehr von Angesicht zu Angesicht. Wir sprechen miteinander
mittels Text und gesichtsloser Medien. So ist es viel einfacher, unsere
natürlichen Stimmungen und Emotionen zu unterdrücken.
Der Film „Her“ von
Spike Jonze im letzten Jahr beschrieb, worauf wir uns einstellen dürfen: eine
Liebesbeziehung mit unserem Computer zu haben.
Wenn wir in
öffentliche Verkehrsmittel einsteigen, oder sogar in den Lift, stellen wir
keinen Augenkontakt mehr her – oder in diesem Fall Körperkontakt. Wir wurden
Experten für Selbst-Isolation. Dies ist ein globales Thema. Einstein sagte:
„Ich fürchte den Tag, an dem die Technologie unser menschliches Miteinander
überholt. Wir hätten dann ein Welt von Idioten – eine Generation von Idioten.“
Nun, ich stehe heute
vor Ihnen, um Ihnen einen anderen Weg zu zeigen, der lustig und leicht ist, und
der Ihr Leben ganz anders gestalten wird.
Was, wenn ich Ihnen
erzählte, falls Sie schüchtern sind, wie Sie zuversichtlich und selbstsicherer
werden können?
Was, wenn ich Ihnen
erzählte, dass Sie Ihr physisches Auftreten verändern können?
Und was, wenn ich Ihnen erzählte, dass Sie Vertrauen zu jemand fassen können, und dass diese Person sogar ein Feind sein könnte?
Und was, wenn ich Ihnen erzählte, dass Sie Vertrauen zu jemand fassen können, und dass diese Person sogar ein Feind sein könnte?
All dies wird möglich
durch den Gesellschaftstanz. „Wie bitte, was, huch, warum?“, mögen Sie fragen.
Nun, er zwingt zwei Leute, sich einander zugewandt hinzustellen, einander in
die Augen zu sehen und sich zusammen zu bewegen. Währenddessen lernen sie
einander kennen und haben Freude in der Umarmung.
Dies änderte mein
Leben, und ich werde Ihnen zeigen, wie es das Ihre verändern kann. Wenn ich Sie
mit „meine Damen und Herren“ anspreche, fühlen Sie sich selbst anders. Sie
sitzen aufrechter da, Sie fühlen sich positiv und sicher, und Sie senden mit
Ihrer Körpersprache und Ihrer Haltung ein Signal, dass Sie zuversichtlich und
gesichert sind. (…)
Das ist die Magie des
Gesellschaftstanzes. Er lehrt Sie viele Lebenskompetenzen wie Selbstachtung,
Disziplin, Zusammenarbeit und gute Manieren. Die Aufforderung zum Tanzen, das
Geleiten im Arm, die Tanzhaltung, all das erzeugt eine respektvolle Beziehung. Der
Gentleman, der eine Lady fragt „Darf ich um diesen Tanz bitten?“, ihre Antwort
„mit Vergnügen“ – dann begleitet er sie auf die Tanzfläche und nimmt sie in die
Umarmung. Wenn Sie jemanden mit solchem Respekt behandeln, wird er diese Geste
beantworten, und Sie befinden sich nun in einer Beziehung des Gebens und
Nehmens.
Hier ist ein Bild von
meiner Tanzpartnerin für 38 Jahre, Yvonne Marceau, und mir. Ich bin wirklich
stolz zu sagen, dass wir viermal die Weltmeisterschaft gewannen.
Lassen Sie uns über Berührung reden: Wenn ein menschliches Wesen mit einem anderen tanzt, lernen
Sie diese Person in einer Weise kennen, die man nicht beschreiben kann. Sie
bekommen deren Reaktion auf Ihre Berührung zu fühlen, und Ihr Eindruck ändert
sich. Dabei könnten Sie mit jemand tanzen, der einer anderen Nationalität,
ethnischen Gruppe, Gesellschaftsschicht oder Rasse angehört. Aber wenn Sie
dieses Gegenüber berühren und ihm in die Augen sehen, wird es zu einem
einmaligen Individuum, nicht zu einem Abziehbild. Sie haben Empathie gelernt.
Vertrauen – meine
Herren, das ist für Sie: Wie oft sind Sie mit Ihren Frauen oder Freundinnen zum
Tanzen gegangen und hatten den Eindruck, dass sie begännen, Sie zu führen? Nun,
Frauen fühlen die Musik und lernen die Schritte viel schneller. Wenn Sie mit jemandem
tanzen, erfordert das eine besondere Beziehung. Als Lehrer bitte ich die Frau,
ihre Augen zu schließen. Es ist unglaublich, wie gut das funktioniert: die
Damen zu bitten, die Kontrolle aufzugeben, ihrem Partner zu vertrauen und
einfach im Tanzfluss mitzugehen. Wie oft im Leben kann man entspannen und dem
Begleiter vertrauen? Nun bewegen Sie sich schön als Einheit – vier Füße, die so
tun, als wären es zwei. Sie können nicht wütend oder traurig sein, wenn Sie
tanzen. Ihr Körper verändert sich, und Ihre Seele ist erhoben. (…)
Gesellschaftstanz
passt für jedes Alter. So bitte ich Sie, mit allem schuldigen Respekt,
verlassen Sie Ihren Computerstuhl, gehen Sie und lernen Sie Salsa, Merengue
oder etwas Tango – und Sie werden noch eine tolle Zeit haben!
Ich wurde 1944 in
Jaffa geboren. Mein Vater stammt aus Belfast, Nordirland, und er war
Protestant, und meine Mutter Palästinenserin und Katholikin. Nun, Palästinenser
zu sein bedeutete, 1948 aus unserer Heimat vertrieben zu werden – wegen der
Gründung des Staates Israel. Da wir nirgends anders hinkonnten, landeten wir in
Amman, Jordanien, wo ich mit einem abgebrochenen Vorderzahn aufwuchs – sehr schüchtern,
und ich lächelte nicht gerne. Später, als Teenager in England, machten sie
Späße über mich und mobbten mich an der Schule, wegen der Art, wie ich Englisch
sprach, mit einem Akzent.
Dann fragte mich
eines Tages Margret, eine Schulfreundin, ob ich sie zu einer örtlichen
Tanzschule begleiten würde. Zu Beginn stellte ich mich fürchterlich an, und
obwohl mein erster Tanzlehrer mich sogar anbrüllte – und ich meine wirklich
„brüllen“ – weil ich das Eins, Zwei, Drei eines Walzers nicht hören konnte,
blieb ich dabei und machte dann meine Karriere.
Nun, der Tanz mit
meiner Partnerin, Yvonne Marceau, im Grand Hotel am Broadway bescherte mir
tagsüber Freizeit. Und da ich wusste, wie sehr sich mein Leben durch den
Gesellschaftstanz verändert hatte, arbeitete ich ehrenamtlich an einer New
Yorker Public School, wo ich dreißig widerwilligen und ungebärdigen elfjährigen Kindern das
Tanzen beibrachte. Schließlich mochten sie es, und ich liebte das.
Daraus wurden die
„tanzenden Klassenzimmer“, das soziale und emotionale Programm zur Entwicklung
der Künste in der Erziehung – gedacht, um grundlegende Lebenskompetenzen bei
Kindern zu entwickeln, indem sie soziales Tanzen üben. Ich kann mit Stolz
sagen, dass „Dancing Classrooms“ bis heute 400000 Schüler in weltweit 31
Städten unterrichtet hat. Studien haben gezeigt, dass die Noten der Lernenden
nach oben gingen, das Mobbing abgenommen und die ganze Schulkultur sich
verbessert hat. Meine Reisen zu den Public Schools New Yorks wurde in dem
Spielfilm „Take the Lead“ dargestellt, in der Hauptrolle Antonio Banderas, der
mich wahrlich verkörperte. (…)
Gesellschaftstanz
überwindet sogar Grenzen zwischen zwei Völkern, die so lange verfeindet sind,
und überwindet Hass, Vorurteile und Misstrauen. 2011 war ich fähig, meinen
Lebenstraum zu verwirklichen: Ich kehrte nach Jaffa zurück und arbeitete mit
jüdischen und palästinensischen israelischen Kindern und brachte sie dazu,
miteinander zu tanzen. Dies war das schwierigste Projekt, das ich wirklich
jemals unternahm, aber auch das lohnendste. Das war ein sehr, sehr wichtiger
Moment. Es war die Kraft der Berührung: Diese Damen und Herren, diese Jungen
und Mädchen aufzufordern, miteinander im Ballroom-Stil zu tanzen. Meine Reise
wurde im Film „Dancing in Jaffa“ dokumentiert, und ich muss auch sagen: Wenn
man die Kinder ändert, verändert man auch die Erwachsenen, und schließlich
hilft man auch, die Welt zu verändern. Der Trailer des Films wird Ihnen einen
Eindruck vermitteln:
(im
Video ab 11:10)
Ja, etwas verändert
sich, wenn man mit jemandem tanzt. Alles, was Sie brauchen, ist, einen Partner
zu fragen: „May I have this dance, please?“ Abschließend, meine Damen und
Herren, möchte ich Sie um etwas bitten: Wenn Sie diesen Zuschauerraum
verlassen, tun Sie es Arm in Arm und fühlen Sie, wie sich ihre Haltung, Ihre
Pose einstellt und wie sehr Ihnen das gefällt. Dann gehen Sie nach Hause,
legen eine Musik auf, nehmen Ihren Partner in die Umarmung und beobachten Sie,
wie sich Ihre Beziehung verändert. Das wird schrittweise Ihr Leben verändern.
Viel Glück, danke und
einen schönen Nachmittag!
Mein
ketzerischer Gedanke: Wenn es dem Gesellschaftstanz sogar gelingt, Juden und
Palästinenser ein Stück näher zu bringen, sollte man vielleicht die Hoffnung
nicht ganz begraben, dass sich auch Anhänger des traditionellen und modernen
Tango einander annähern könnten. Daher, liebe konservative Tangueras, werde ich
mir gegebenenfalls erlauben, euch beim Erklingen von Piazzollas „Verano porteño“
so ganz in Worten einmal zu fragen: „May
I have this dance, please?“
Ach, mit historischem Tango wäre es euch lieber? Na gut, das mache ich seit 17 Jahren…
Look at me,
I'm as helpless as a kitten up a tree;
and I feel like I'm clingin' to a cloud,
I can' t understand.
I get misty, just holding your hand.
Walk my way,
and a thousand violins begin to play,
or it might be the sound of your hello,
that
music I hear,
I get misty, the moment you're near.
(Erroll Garner / Johnny Burke: Misty)
Sieh mich an,
ich bin so hilflos wie ein Kätzchen auf einem Baum;
ein Gefühl, als ob ich mich an eine Wolke klammere,
Ich kann es nicht verstehen.
Ich werde benebelt, wenn ich nur deine Hand halte.
Geh meinen Weg,
und tausend Geigen beginnen zu spielen,
oder es könnte der Klang deines „Hallo" sein,
diese Musik, die ich höre,
Ich werde benebelt, sobald du in der Nähe bist.
Hört, hört!
AntwortenLöschenBei den letzten beiden Absätzen des Zitats hatte ich Gänsehaut.
(^_^)
Ja, ich habe den faszinierenden Titel "Misty" auch erst auf diese Weise kennen gelernt!
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