Wie elitär ist der Tango?

Per Zufall geriet ich gestern auf die Diskussions-Plattform „Reddit“, wo ein Leser diese interessante Frage stellte:

„Geht es beim Tango noch ums Tanzen? Ist er noch offen für alle?

Je mehr ich zu Milongas gehe, je mehr ich in den sozialen Medien über den Tango lese, desto mehr Leute sehe ich, die sich über diese Art von ‚Elite-Club‘ von internationalen Tänzern beschweren, denen es nur darum geht, unter sich zu tanzen und zu ‚performen‘, anstatt einfach nur die Musik zu genießen, die Umarmung und die Öffnung gegenüber anderen Führenden und Folgenden auf der Tanzfläche. Nur mein Eindruck?“

Neben kürzeren Wortmeldungen gab es dazu einen ziemlich langen Kommentar, der sehr schön das zusammenfasst, was ich zum Thema aus gewissen Kreisen immer wieder lese. Daher hier meine Übersetzung des gesamten Textes:

„Ebenso wie Sie höre auch ich oft Klagen über diese ‚Elite‘, aber kenne niemanden, der einen Gegenpunkt setzt. Das will ich hier versuchen, aus Gründen der Ausgewogenheit, aber auch aus Einfühlungsvermögen für diese Menschen.

Erstens: Wer sind sie? Wir wissen, dass sie gut genug tanzen, um auf einer Milonga wahrgenommen zu werden, dass Sie und andere sie auf vielen Veranstaltungen identifiziert haben und Muster darin erkennen, mit wem sie tanzen. Und wir hören, dass es viele Leute gibt, die mit ihnen tanzen wollen, aber sie meiden sie.

Warum wollen andere mit ihnen tanzen? Weil sie erwarten, dass es ihnen Spaß macht. Weil sie glauben, dass sie sich mit ihnen besser amüsieren werden als mit der ‚Nicht-Elite‘. Wenn das stimmt, dann gilt das auch für die ‚Elite‘: Es macht ihnen mehr Spaß, miteinander zu tanzen, mit dem zusätzlichen Vorteil, dass auch ihr Partner Spaß hat. Das scheint mir eine vernünftige Regelung zu sein. Vielleicht gibt es aber auch einen Grund, warum sie es anders machen sollten...

Warum sollten sie also Tänze akzeptieren, die ihnen unangenehm sind? Ich habe viele Antworten darauf gehört und kann nur ein paar zusammenfassen: Zum einen sollten sie Anfänger ermutigen, damit sie später mit fortgeschritteneren Menschen tanzen können. Wenn wir uns diesem Argument anschließen, sollten wir auch akzeptieren, dass sie vielleicht aufhören, mit jemandem zu tanzen, wenn sie nicht glauben, dass diese Person sich jemals verbessern wird. In der Tat tanzen viele mit Anfängern, wenn sie diese zum ersten Mal auf einer Milonga sehen, aber sie werden trotzdem als ‚elitär‘ wahrgenommen, wenn sie aufhören.

Wie wäre es, wenn sie gute Stimmung in der Szene verbreiten? Vielleicht tun sie das bereits, indem sie Veranstaltungen und Musik organisieren, in den Kursen helfen oder Practicas veranstalten. Vielleicht wollen sie die Milonga nach einem harten Arbeitstag einfach nur genießen. Schließlich soll die Milonga ja ein schöner Ort sein, den man besuchen kann. Das gilt nicht nur für die Anfänger, sondern auch für sie.

Das bringt mich zu dem letzten Einwand, den ich ansprechen möchte. ‚Sie sollen mit allen Spaß beim Tanzen haben können‘. Ist diese Erwartung nicht ein bisschen zu hoch? Sie sollen nicht nur gut genug sein, um die Fähigkeiten der Anfänger auszugleichen, sondern auch so gut, dass es nicht einmal eine Last ist? Man kann das Argument leicht auf die Anfänger selbst übertragen: Wenn sie jeden Tanz zu schätzen lernten, würden sie sich über diese vermeintlichen ‚Elitären‘ nicht beklagen.

Womit wir bei dem weniger diplomatischen Teil des Beitrags wären. Nämlich, dass diese Leute nicht ‚performen‘, die Musik ignorieren und umarmen, wie Sie es beschreiben. Sie sind sehr gut in all dem, und es ist keine Täuschung, sonst wären sie nicht so begehrt. Aber sie haben begrenzte Tandas in einer Milonga, und die wollen sie genießen, vor allem, wenn sie, egal wie viel sie mit Anfängern tanzen, nie dem Etikett ‚elitär‘ entkommen. Und sie gehen Kompromisse ein, sehr viele! Es ist ja nicht so, dass sie alle auf demselben Niveau sind. Sie bevorzugen ständig einige Partner und werden von anderen abgelehnt, aber das wird nicht – niemals – in den Diskussionen berücksichtigt, weil es uns nur interessiert, ob sie mit uns tanzen. Das ist in meiner Sicht unglaublich. Wir neigen dazu, nur das zu sehen, was wir wollen, und irgendwie wird es zur Verantwortung der anderen, uns glücklich zu machen, indem sie mit uns tanzen, nur weil wir sie gut tanzen gesehen haben. Wie fair ist das?

Abschließend sollte ich erwähnen, dass ich zwar bisher über ‚Anfänger‘ im Allgemeinen gesprochen habe, diese Rhetorik aber am häufigsten bei Langzeitanfängern zu finden ist. Das sind oft Leute, die vor mindestens fünf oder sechs Jahren ein paar Monate lang Unterricht genommen haben und sich seitdem nicht mehr verbessert haben. Sie bemerken den Rückstand und rechtfertigen ihn vor sich selbst und anderen mit dem Vorwurf des Elitismus. Ich denke, dass sie und alle, die diese Argumente wiederholen, die Gemeinschaft mehr stören und schädigen als die ‚Snobs‘, weil sie Spaltungen und Ressentiments schaffen, der Tangogemeinschaft einen schlechten Ruf verschaffen und echte Anfänger abschrecken, die glauben, dass sie den ‚inneren Kreis‘ nie erreichen werden, obwohl dies in der Praxis durchaus möglich ist. Ich kann nicht umhin, mich zu fragen, ob einige Leute die Tangoszene lieber verschwinden sehen würden, als sie wachsen zu lassen, weil sie befürchten, dass sie zurückbleiben, wenn es zu viele gute Tänzer gibt.

Nun, das wurde doch etwas kämpferischer, als ich geplant hatte. Ich hoffe, der Kernpunkt ist klar: Wir sollten achtsam sein, wenn wir von anderen erwarten, dass sie uns auf ihre Kosten verwöhnen, wir sollten versuchen, uns in ihre Motive einzufühlen – und uns ehrlich fragen, wie wir uns an ihrer Stelle verhalten würden. Und wir sollten vermeiden, Gräben innerhalb der Gemeinschaft zu verursachen.“

Quelle:https://www.reddit.com/r/tango/comments/cca9iu/is_tango_still_about_dancing_still_open_to/?rdt=51261

Fest steht für mich jedenfalls: Der Tango hat bei Außenstehenden nicht den besten Ruf. Dem Klischee von „Sinnlichkeit und Erotik“ stehen ziemlich finstere Verdächtigungen gegenüber: Die Szene gilt als arrogant und elitär – und noch dazu als Balzplatz für sexuelle Annäherungen. Oft wird unterstellt, sie biete älteren Hanseln eine gute Gelegenheit, sich an jüngere Frauen heranzumachen. Das Problem ist nur: So ganz junge Damen sind beim Tango selten…

In Partnerschaftsforen werden gerade Schreiberinnen oft ziemlich deutlich:

„Männer tanzen deshalb, weil es keine andere Tätigkeit gibt, bei der man fremden, meist jüngeren Frauen derart nah kommen und Körperkontakt haben kann. Wer behauptet, das sei SPORT, ist grenzenlos naiv.“

https://milongafuehrer.blogspot.com/2015/08/sind-die-manner-wirklich-so.html

Und klar, der Tango ist häufig hierarchisch organisiert: In bestimmte Cliquen kommt man nur auf allen Vieren rein – und gerade über den Tänzerinnen baumelt ständig das Damoklesschwert, sitzen gelassen zu werden.

Bei der obigen Kontroverse stehen sich aus meiner Sicht zwei gegensätzliche Lebenseinstellungen gegenüber: Sucht man in der Beziehung zu anderen nur das eigene Glück – oder findet man dies nur, wenn auch das Gegenüber Freude hat?

Insofern frage ich mich speziell bei Tangueros, die überzeugt zum alleinigen eigenen Vergnügen stehen, wie sie auf diese Weise eine halbwegs stabile Partnerschaft hinbekommen wollen. Aber als Szenekenner weiß man: Das ist oft auch nicht der Fall.

Auf der anderen Seite muss ich aber bekennen, dass ich auf Milongas inzwischen weitgehend mit meiner Begleiterin tanze. Das hat mehrere Gründe: Erstens ist man in meinem Alter nicht mehr so fit wie vor zwanzig Jahren. Zudem motiviert mich die heute übliche Musik nicht sehr zum Tanzen – noch dazu, wenn das Parkett brechend voll ist und somit der letzte Rest an Kreativität wegfällt.

Eine Ursache ist aber auch: Wenn ich früher zum Tango ging, sah ich eine Vielzahl von Tanzstilen. Innerhalb einer Viertelstunde hatte ich eine Liste von Tänzerinnen beisammen, mit denen ich es gerne einmal auf dem Parkett versuchen wollte – von der Anfängerin bis zur Super-Tanguera.

Heute vermag ich oft kaum Unterschiede zu erkennen: Alle tanzen irgendwie ähnlich – so richtig reizt es mich mit keiner. Ich habe das schon ausführlich beschrieben, und es ist seither eher schlimmer geworden:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2015/06/mein-asozialer-tango.html

Zwei Dinge allerdings stehen für mich fest:

Aus Cliquen halte ich mich stets heraus. Ich komme zum Tanzen und nicht zum Besuch eines Stammtisches. Oder gar zwecks Etablierung irgendeiner Hierarchie.

Und ich ertrage es nicht, wenn Frauen lange Zeit herumsitzen. Das schlägt bei mir auf die Stimmung, so dass ich früher oder später mit einer Aufforderung eingreife.

Ist der Tango elitär? Ich glaube, bei jeder halbwegs wichtigen Beschäftigung bilden sich Eliten heraus. Nur sollten diese dann wenigstens auf wahren Leistungen beruhen. Dies ist im Tango häufig nicht der Fall: viel Getue, wenig Inhalt.

Daher kann ich jedem und jeder nur raten, sich von Veranstaltungen fernzuhalten, welche diesen Trend unterstützen. Oft sind das die großen, „angesagten“ Events – und nicht die Vorstadt-Milonga oder der Dorftango. Aber da findet man halt nicht den ersehnten Glamour.

Klar ist aber auch: Der Tango beinhaltet keine Garantie zur Lieferung einer angemessenen Glücksportion. Das könnte man schon aus vielen seiner Texte ableiten. Man muss sich aktiv bemühen, auf gewünschte Partner zugehen - und natürlich auch viel üben. Herumsitzen und jammern ist zwar tangotypisch, bringt uns aber nicht weiter.

Bei mir jedenfalls haben elitäre Wesen keine Chance auf einen Tanz. Und Frauen, die sich beklagen, nicht genug aufgefordert zu werden, frage ich oft:

„Kannst du mir sagen, was dir heute Abend entgangen ist?“       

Foto: Yan Liu

Kommentare

  1. Bei dem Titel dachte ich erst, es geht um den starken akademischen Bias beim Tango.

    Aber geschenkt, die Rhetorik finde ich ausgefeilt. Also dass eine Elite dann existiert, wenn Dritte ihr Eigenschaften zuschreiben, und dass es intrinsisch dann attraktive Eigenschaften sind.
    Selbiges beugt einer Strohmann-Rhetorik vor, also dass eine Elite angeblich existiert, dann aber dann argumentiert wird, warum diese gar keine ist.

    Aber so oder so wird man Andere nur unter größen Mühen dazu bringen, sich so zu verhalten, wie man es gerne hätte - und es den eigenen Interessen zumeist auch dienen soll.
    Viel unkomplizierter ist es doch, mit einem Partner zu einem Tangokurs oder auf eine Milonga zu gehen, und das so oder so möglichst freudvoll zu genießen. Unter der Vorraussetzung eines geeigneten Partners (es ist halt ein Partnertanz) ist der Tango für alle so offen wie eine Kinovorstellung.

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    1. Lieber Martin,

      könntest du mal in zwei simplen Sätzen erklären, was du eigentlich meinst?

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