Unweihnachtliches vom Granfluencer

Wer meinen Weihnachtsartikel kennt, den ich vor zwei Jahren schrieb, ahnt, dass ich kein überzeugter Unterstützer des Jahresendtreibens bin.

https://milongafuehrer.blogspot.com/2021/12/weihnachten-ist-nichts-fur-feiglinge.html

Am meisten stören mich nicht einmal die ganzen Rituale, die zum Fest zelebriert werden. Penetrant-süßlicher noch als die Düfte von Spekulatius und schlechtem Glühwein erscheinen mir die humanistischen Bekenntnisse, welche zu diesem Anlass durch die sozialen Medien wabern.

Haufenweise werden edle Sentenzen gepostet, die von idealem Glück und wahrem Menschsein handeln. Unterhalb von Mahatma Gandhi oder dem Dalai Lama tut man es selten. Überhaupt wird im Internet weitgehend das geistige Eigentum Dritter geplündert, statt dass man sich mal selber etwas einfallen lässt. Vermutlich ist das aber sogar besser so.

Sonst könnte es manchen auffallen, dass man einander zumindest im digitalen Raum in der restlichen Zeit oft heftig beschimpft und herabsetzt. Wenn ich aus den hiesigen Blog-Kommentaren der letzten zwölf Monate das Einschlägige zitieren würde, könnte ich mir den restlichen Text sparen. Selbst auf einem so harmlos wirkenden Feld wie dem Gesellschaftstanz Tango wird dem Gesprächspartner gerne attestiert, er habe vom jeweiligen Thema keine Ahnung – oder behaupte sogar bewusst die Unwahrheit. Und – trotz Pontius Pilatus – existiert natürlich jeweils nur eine Wahrheit, nämlich die des Schreibers. Irrtum ausgeschlossen.

Um gleich dem „Selber-Argument“ entgegenzutreten: Natürlich ist Kritik – auch satirische bis scharfe – erlaubt und oft sogar nötig. Ich finde es jedoch unfair, ein Buch, ein Tanzvideo oder einen Text in ein, zwei Zeilen abzuqualifizieren. An solchen Produktionen hängt meist lange Arbeit, und daher sollte man sich dann schon die Mühe machen, ausführlich und mit ein wenig Respekt dazustellen, warum einem das Angebotene missfällt.

Doch von wegen Zweifel: Relativieren ist unmännlich! Der „Meinungsstarke“ verwendet keine Kompromiss-Vokabeln. Mit rhetorischem „Doppel-Wumms“ wird verkündet, die Sache sei „völlig abwegig“, „total missglückt“, der Akteur habe „kläglich versagt“ oder „überhaupt nichts verstanden" . In unserer Szene lautet der Vernichtungs-Superlativ oft, das sei „gar kein Tango“.

In der Tätigkeit als Corona-Experte, Ukraine-Kenner und Klimafachmann begeben sich diverse Protagonisten auch auf das Feld der hohen Politik. Frei von jeglichem Vorurteil erkennt man, die andere Seite mache „alles falsch“, so schlecht habe seit 1949 (oder wahlweise dem Westfälischen Frieden) keine Regierung je agiert. Nichtskönner und Stümper, wohin man sieht! Dazu ein paar Zeilen Text, eine Grafik – und fertig ist die Weisheit. Oder man schreibt, dazu falle einem gar nichts mehr ein – was leider oft nicht zutrifft.

Politikern, die einfach ihrer mühsamen Arbeit nachgehen statt von einem Mikrofon ans andere zu eilen, fordert man immer wieder auf, endlich ein „Machtwort“ zu sprechen. Wenn man sich in der Welt umsieht, wimmelt es von dominanten Kerlen, die außer rumpelnder Rhetorik nicht viel hinbekommen: Trump, Erdogan, Orban, Ali Chamenei, Kim Jong-un, Xi Jinpin, Putin – die Auswahl ist groß, aber nicht großartig.

Nach einer aktuellen Umfrage stimmt ein Drittel der Ostdeutschen Aussagen wie dieser zu: „Wir sollten einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert.“

https://www.dw.com/de/jeder-dritte-ostdeutsche-w%C3%BCnscht-sich-einen-f%C3%BChrer/a-66057204

Dass es sich dabei um einen Widerspruch in sich handelt, ist wohl vielen nicht klar: Starke Führer regieren fast immer nur zum Wohl ihrer eigenen Person und Klientel. Doch wir steuern in ein Zeitalter des Egoismus. Kritik ist nur dann gut, wenn sie andere trifft. Selber hält man Widerspruch nicht ohne Tobsuchtsanfälle aus.

Weibliche Personen dürfen in dieser Disziplin eher nicht mitspielen. Sie haben zu schweigen, oft auch ihr Haupt zu verhüllen respektive daheim zu bleiben. Der Mann führt, die Frauen haben zu folgen. Wenn sie das nicht tun, werden sie gerne vor Gericht gestellt, gefoltert, sind Opfer von Attentaten oder landen im Gefängnis wie die Trägerinnen des Friedensnobelpreises Aung San Suu Kyi (1991), Wangari Muta Maathai (2004), MalalaYousafzai (2014), Maria Ressa (2021) oder Narges Mohammadi (2023).

Junge Kerle (für mich die gefährlichste menschliche Spezies) lassen sich dagegen immer wieder zu Hass und Aggressionen aufstacheln. Ich sehe das Wahlrecht für Männer als keine gute Idee – und wenn, dann höchstens ab Vierzig!

Vielleicht könnte man sich zu Weihnachten einmal darauf besinnen, dass die Welt noch nie durch große Worthülsen besser wurde, sondern durch eine Menge kleine Taten. Und dass auch der Gegner im Besitz eines Teils der Wahrheit sein könnte – so verschroben einem das auch scheinen mag.

Wir leben nun seit über 30 Jahren in einem oberbayerischen Dorf, das immer wieder „hinter den sieben Bergen“ verortet wird. Klar, da erscheint manches sehr konservativ, ja rückständig. Ich habe aber durch Karins langjähriges Tätigkeit im hiesigen Kirchenchor erlebt, wie wichtig für das Zusammenleben ehrenamtliches Engagement ist – ob nun in der Musik, bei der Feuerwehr, im Pfarrgemeinderat, in Vereinen oder einfach im persönlichen Umfeld. Dass man beispielsweise der Nachbarin hilft, der es gerade nicht gutgeht, eine kranke Seniorin besucht und ihr Medikamente besorgt – oder sich für das Projekt eines Dorfladens einsetzt, wofür derzeit ein historisches Gasthaus renoviert wird.

Es sind oft sehr einfache Menschen, die einem dankenswerterweise nicht mit großen Ideologien kommen oder gar meinen, sie müssten „die Welt retten“ – wovor auch immer. Was sie tun, hat einen sehr schlichten Grund: Anstand.

Ich glaube, ein wenig von diesem „Naturheilmittel“ sollten wir mit ins Neue Jahr nehmen. Und große Sprüche nicht inflationieren.

Man mag solche Gedanken als Gebrabbel eines „alten, weißen Mannes“ sehen. Oft schon durfte ich lesen, sie rührten nur vom einsamen Pensionisten-Dasein, welches ich mir verschönern wolle. Aber da habe ich gestern eine tolle Entdeckung gemacht: Boomer wie ich liegen voll im Trend – man nennt sie jetzt „Granfluencer“:

„Die Bezeichnung Granfluencer setzt sich aus den englischen Wörtern ‚grandparents‘ - (dt. Großeltern) und ‚Influencer‘ zusammen. Hierbei handelt es sich um Rentner, die teilweise mit über 90 vor die Kamera gehen und ihre einzigartigen Perspektiven und Erkenntnisse im Internet präsentieren. Die Themen, die sie dabei abdecken, sind breit gefächert und umfassen Fashion, Mode und Lifestyle, Gesundheit, Reisen und Food. Durch ihre Lebenserfahrung und Weisheit unterhalten sie mit ihrem Content vor allem ein junges Publikum, brechen mit Stereotypen und hinterfragen Altersdiskriminierung. Man stellt fest, dass auch ältere Menschen relevant und einflussreich sein können und über ein großes Netzwerk verfügen. ‚Älter werden‘ wird als Privileg vermittelt und nicht als Lebensphase, in der man auf dem ‚Abstellgleis landet‘.“

https://www.marketinginstitut.biz/blog/granfluencer/

Noch weiter zurück liegen die Gedanken des Satirikers Kurt Tucholsky. 1926 wandte er sich an einen Leser im Jahr 1985:

https://www.youtube.com/watch?v=toeCCkU7DVM

https://de.wikisource.org/wiki/Gru%C3%9F_nach_vorn_(Tucholsky)

Kommentare

  1. Tom Opitz hat meinen Text nun geteilt – vielen Dank! Obwohl nun wieder die übliche Folge eintritt: Leute, die sich bei mir nicht zu kommentieren trauen, können nun dort Ballast abwerfen.

    Hier der vollständige Beitrag von Joachim Beck:

    „Hätte er sich doch bloß auf die wenigen schlichten, einigermaßen stimmigen Gedanken konzentriert, die mit dem Thema im Zusammenhang stehen (äh? was war das Thema eigentlich?), statt in altbacken rumpelnder Rhetorik einen Rundumschlag zu exekutieren, der von Weihnachten über Tango, dominante Kerle, egoistische Diktatoren, verfolgte Friedensnobelpreisträgerinnen, oberbayerische Dorfidylle zur eigenen Selbstüberschätzung als altersweiser Influencer reicht. Der Mann der alles weiß - und zwar besser.“

    Nein, das tut er nicht – erklärtermaßen und auch der Wahrheit entsprechend. Aber es freut mich, dass sich nun genau einer von denen meldet, die ich im Artikel gemeint habe!

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