Auffordern und männliches Heldentum

Ich weiß nicht mehr, wie oft ich schon Zitate von Tänzerinnen veröffentlicht habe, die sich darüber beklagen, auf Milongas nicht gut behandelt zu werden: Gerade, wenn sie älter und wenig spektakulär aufgemacht sind bzw. sie keiner kennt, werden sie wenig bis gar nicht aufgefordert. Ergreifen sie ihrerseits zu deutlich die Initiative, handeln sie sie Körbe oder zumindest arrogantes männliches Verhalten ein.

In den letzten Tagen habe ich bei Facebook auf zwei Artikel dazu hingewiesen, die ich vor vier bis fünf Jahren verfasste:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2019/03/munchner-tanguero-feldtreiben.html

https://milongafuehrer.blogspot.com/2018/04/tango-me-too.html

Ich bin bis heute von zwei Tatsachen felsenfest überzeugt:

Auf vielen Milongas existiert dieses Problem tatsächlich – und zwar eher auf großen Veranstaltungen.

Die oft gepriesene „Wunderwaffe“ Cabeceo löst es nicht.

Satirewürdig finde ich, dass viele Männer bei solchen Diskussionen vom Tango zum Eiertanz übergehen: Da sei doch alles nicht so schlimm! Die Damen müssten halt bei der Tanzpartnersuche aktiver werden, also ihre Blicke deutlicher schweifen lassen, sich einladender verhalten, anstatt ob der Situation einen Flunsch zu ziehen.

Klar, meine Herren – und wenn Ihr Lieblingsverein 0:5 hinten liegt: Einfach lächeln, gell?

Was die Kerle lieber nicht laut sagen: Am besten Rock höher und Ausschnitt tiefer legen…

Ich glaube, es gibt – neben dem Testosteron-Spiegel – zwei Ursachen dieses männlichen Verhaltens:

Ich erinnere mich dabei an eine durchaus gutaussehende Tanguera mittleren Alters, die ich einst in München kennenlernte. Nach einem sehr schönen Tanz kamen wir auf dieses Problem zu sprechen. Sie bestätigte mir: Ja, so sei das auf den hiesigen Milongas – und erzählte einige heftige Geschichten dazu. Sie äußerte aber eine Bitte: Ich solle ja nicht schreiben, dass ich die von ihr hätte. Sie habe sich nämlich in den Jahren mühsam einen „männlichen Harem“ aufgebaut – also Tangueros, die sie regelmäßig aufforderten. Die würden solche Veröffentlichungen nicht gut finden…

Je größer die Veranstaltungen, desto schlimmer dieses Cliquen-Unwesen. Viele Tänzerinnen passen sich dem an und sichern sich so eine „Aufforderungs-Garantie“. Natürlich auf Kosten der „Außenseiterinnen“.

Noch wichtiger erscheint mir eine andere Ursache, welche neulich im Facebook-Kommentar eines Tänzers schön zum Ausdruck kam. Auch ältere Herren würden in Berlin bei fehlender Prominenz eher übersehen:

Das schmerzt schon auch mich, wenn eine dem Augenkontakt durch starres Wegschauen ausweicht, weil sie den ollen Typ nicht will. Da hilft dann nur wiederholtes Vortanzen in der Hoffnung, dass dich die Richtigen sehen.

Und für viele Männer im ewig langen Prozess des Lernens gilt ja, dass sie Angst haben vor neuen Damen, weil sich das so anders anfühlt, manches nicht so einfach klappt, und vor allem bei guten Tänzerinnen schnell Leistungsdruck entsteht. Man will sie ja nicht langweilen, also denkt man an Figuren anstatt ans musikalische Bewegen. Man arbeitet am Besserwerden, aber man versteht und spürt auch immer mehr was man nicht kann ...“

https://www.facebook.com/profile.php?id=100014360957851 (Post vom 2.2.23)

Ich glaube, das trifft den Kern des Problems: Maskulines Heldentum ist auf dem Parkett wenig verbreitet. Zudem kann der Mann hier kaum mit Statussymbolen glänzen (Haus, Auto, Boot, Geld, Titel). Nein, er steht ziemlich nackend auf der Piste herum und soll öffentlich zeigen, dass er mit einer Frau zurechtkommt. Oh weia!

Sich tänzerisch zu blamieren rangiert bei den Herren auf der Unwohlsein-Skala noch vor dem Horror, eine Frau beim Shoppen begleiten zu müssen. Daher kann man beim Tango jemanden, welcher einem zum Ekel ist, mit nichts so persönlich treffen als mit dem Vorwurf, ein schlechter Tänzer zu sein.

Ich durfte das immer wieder persönlich erleben: Als ich vor über sieben Jahren ein Video veröffentlichte, in dem (ab 5:50) auch ein Tanz von mir zu sehen war, ergoss sich ein bis heute anhaltender Sturm von Spott und Häme über mich (interessanterweise nicht über meine Tänzerin). So schrieb ein damals angesagter Tangoblogger:

„Sein jüngst veröffentlichtes Video hat mir noch einmal deutlich gezeigt: Sein Verständnis von der Musik und vom Tanz (ab: 5'49") im Tango hat mit meinem Tangobegriff keinerlei Berührungspunkte.“

 https://milongafuehrer.blogspot.com/2015/11/tango-fur-cassiel_25.html

Ein Wiener Tangolehrer befand:

„Schauen Sie sich bitte nochmal Ihr berühmtes Tanzvideo an und dann schweigen Sie für immer. By the way, wenn die (Stamm-) Tanzpartnerin klein ist, gibt es trotzdem keinen Grund einen solchen Buckel zu machen.Schauen Sie mal bei YouTube.be Da gibt es einige interessante Lehrvideos zum Thema: Postura.“

Obiger Blogger behauptete dann noch:

"Mir ist auch rätselhaft, wie man in einer derartig gestalteten ‚Umarmung' eine Führung mit dem Oberkörper vermitteln will. Das geht nach meiner Einschätzung gar nicht. Damit ist ein akzentuiertes Tanzen (inkl. Pausen, Stopps, Synkopen, OffBeats usw.) unmöglich. Ich wage zu behaupten, dass man in einer solchen ‚Umarmung' keinen Tango z.B. von Biagi musikalisch interpretieren kann."

Er verlinkte dazu Biagis Einspielung von „Belgica“. Wir reagierten darauf mit einem Video, in dem wir zu genau diesem Tango tanzten. Doch das war auch wieder nicht recht. Per YouTube-Kommentar vermeldete ein Tangoaktivist:

„Ich höre Tango, wie heißt der Tanz?“

Und ein Tangolehrer wusste dazu:

„Wenn mir irgendjemand weißmachen will, dass dies ein musikalisch getanzter Tango ist, müsste ich an meiner Urteilsfähigkeit verzweifeln. Aber das tue ich nicht. Wenn Sie eine ausgiebigere Begründung wollen, dann gern privat, aber ich möchte hier Herrn Riedls Tanz nicht völlig demontieren, weil es mir, wie es Ihnen und auch Herrn Riedl vielleicht entgangen ist, nicht um Tanz geht, sondern um sein Video, das ich als langjähriger Tangolehrer als völlig nutzlos betrachte.“

(Gemeint war mein Video zur Phrasierung des Tangos „Uno“.)

https://milongafuehrer.blogspot.com/2022/08/faktencheck-phrasierungen.html 

Und auch ein weiteres Tanzvideo von uns (zu „Mariposita“) fiel bei ihm in Ungnade:

„Da es beim Tanzen auch über die Interpretation der Musik geht, sollten beim Kritiker die Fähigkeit der musikalischen Interpretation vorhanden sein. In einem Video, das Sie stolz in einem Ihrer Beiträge als Beleg der ‚Tanzbarkeit' eines Tangostücks veröffentlich haben, erfüllen sie sichtbar diese Voraussetzungen nicht.“

https://milongafuehrer.blogspot.com/2019/01/hamse-jedient.html

Wer die beiden erstgenannten Tanzbeispiele noch nicht kennt und sich empören möchte:

https://www.youtube.com/watch?v=fX4SXOPa4cY&t=25s

https://www.youtube.com/watch?v=gWMf_1AXvvw

Womit die hehren Kritiker nicht rechneten: Mir sind deren Einschätzungen zu meiner Tanzweise sowas von wurstegal! In unserer aktiven Turnierzeit durften wir nach jedem Tanz vor die Wertungsrichter treten und deren Beurteilungen per hochgehaltenen Täfelchen – bitte mit lächelndem Gesicht und Verbeugung – zur Kenntnis nehmen. So etwas stählt…

Daher antwortete ich jüngst auf Facebook meinem Kommentator:

Nicht nur im Tango führt Ranking zu nichts Gutem: Tanze ich besser als…?' Wir sind keine Berufstänzer, also können wir uns den Leistungsdruck sparen. Ich habe meinen individuellen Tanzstil – fertig! Wer den nicht mag, soll es lassen. Oder mich zu alt, zu unattraktiv oder sonst was finden. Wieso soll ich mit so jemandem tanzen? Es würde uns beiden keine Freude machen.

Ich konzentriere mich auf das, was ich kann – und nicht das, was mir noch fehlt. Und hoffe auf Tänzerinnen, die das ebenso sehen. Dann kann ein gemeinsamer Tanz wunderschön werden.“

Und übrigens habe ich auch keine Angst, meine Partnerin mit simpler Choreografie zu langweilen. Wenn‘ s ihr zu öde ist, darf sie gerne zu eigenen Einwürfen greifen. Ich liebe das Abenteuer!

Wenn ich länger als fünf Minuten auf einer Milonga weile, habe ich mir ein erstes Urteil über die Veranstaltung gebildet: Geht es dort darum, möglichst viel zu tanzen – und auch noch mit verschiedenen Partnern? Oder hocken dort nur hermetisch abgeriegelte Paare herum? Schlimmstenfalls: Denkt man vor allem darüber nach, mit wem man ganz bestimmt nicht tanzen will?

Ich hätte für letztere Events auch schon einen Fachbegriff: Non Tango.

Kommentare

  1. Auch ich habe inzwischen mehrfach erlebt, dass ich als fremder (nicht mehr ganz junger) Mann auf Milongas (vor allem in Berlin) kaum eine Chance hatte, zu tanzen, da sich die lokale Szene ausschließlich mit sich selbst beschäftigte und ich ausschließlich mit ebenfalls zu Besuch gekommenen Damen oder Anfängerinnen tanzen konnte. Ich fand das eine interessante und lehrreiche Erfahrung, mal die wohl verbreitete Perspektive der Folgenden erleben zu dürfen. (Einschränkung: Ist mir bisher nur in Deutschland passiert, im Ausland hatte ich das Problem bisher nie).
    Ein Nebenaspekt in deinem Artikel, aber ich will ihn mal erwähnen. Ich bin sicher kein Held und beim Ansprechen von mir unbekannten Frauen überdurchschnittlich schüchtern. Trotzdem - oder besonders deswegen? - schätze ich beim Tango besonders, das es selbstverständlich ist, mit fremden Partnerinnen zu tanzen.
    Als Nicht-Held hilft mir der von dir so oft verspottete Cabeceo tatsächlich erheblich, meine natürliche Scheu zu überkommen und daher begrüße ich diese Tango-Tradition ausdrücklich. Auch wenn ich sie NIE zur einzig zulässigen Art des Aufforderns erklären würde. Und ich lasse mich gern auch von Frauen per Cabeceo auffordern.
    Denn als bekennender Nicht-Held wage ich es bis heute nicht (oder nur sehr selten) Frauen aufzufordern, die a) gefühlt Dimensionen besser Tango tanzen als ich (die können ja keinen Spass mit mir haben!) oder b) sehr sexy angezogen sind. Die müssen schon auf mich zukommen - was zum Glück auch manchmal passiert. Jeder bringt halt seinen Charakter mit zum Tango.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Lieber Carsten,

      herzlichen Dank für die Schilderung Deiner persönlichen Eindrücke!
      Was den Cabeceo betrifft: Ich verspotte nicht diese Art der Aufforderung, habe mich aber schon vor Jahren dagegen gewehrt, dass man diese Form der gesamten Tangoszene verordnen wollte. Und dann noch mit Andeutungen, alles andere grenze an sexuelle Nötigung.
      In besonderen Situationen greife ich durchaus mal zum Cabeceo, finde aber, dass insgesamt seine Nachteile überwiegen.
      Ich plädiere für mehr Mut beim Auffordern sehr guter Tänzerinnen. Wenn die wirklich was drauf haben, freuen sie sich, auch weniger erfahrenen Tänzern auf die Sprünge helfen zu können. Und man langweilt sie nicht mit einfacher Choreografie.
      Und wenn mal nicht, sind die Damen vielleicht in Sachen Arroganz Spitzenklasse – tänzerisch haben sie meist nicht halb so viel drauf, wie sie meinen.

      Herzliche Grüße
      Gerhard

      Löschen

Kommentar veröffentlichen

Hinweis zum Kommentieren:

Bitte geben Sie im Kommentar Ihren vollen (und wahren) Namen an und beziehen Sie sich ausschließlich auf den Inhalt des jeweiligen Artikels. Unterlassen Sie herabsetzende persönliche Angriffe, gegen wen auch immer. Beiträge, welche diesen Vorgaben nicht entsprechen, werden – ohne Löschungsvermerk – nicht hochgeladen.
Sie können mir Ihre Anmerkungen gerne auch per Mail schicken: mamuta-kg(at)web.de – ich stelle sie dann für Sie ein.