Placebo-Tango

Man muss es den Berlinern (nach Silvester-Randale, Flughafenbau und vergeigter Wahl) lassen: Inzwischen sind sie mit Kleinigkeiten zu begeistern. Auf Facebook überschlagen sich derzeit die Szene-Jubeltöne ob einer Reportage des Senders RBB im Rahmen der Reihe „NachtSicht“. Dass im Dunkel die Sichtweite begrenzt ist, verrät schon der Titel:

„Tango wie in Buenos Aires – geht das in Berlin?“

Statt die Frage sachgerecht mit einem klaren „Nein“ zu beantworten, hat sich der klamme Sender doch ein fast dreiminütiges Feature geleistet.

Anfangs erleben wir, wie die autogen dauerbegeisterte Tanzlehrerin Lilia Keller ein überdimensionales Gesteck aus weißen Lilien auftürmt. Man habe sich die größte Mühe gegeben, „sehr, sehr viel Tango reinzubringen“. Die bitterbös satirische Bedeutung dieses Tuns ist ihr mit Sicherheit nicht bewusst. Aber vielleicht war ja gerade Schlussverkauf in der Friedhofsgärtnerei…

Anschließend malt sie mit Babypuder das Wort „Tango“ auf die Piste. Auch das halte ich für eine gelungene Anspielung.

Den Staub für den Hintern verteilt dann bei der Tango-Einführung eine größere Schülerzahl auf der Fläche (natürlich gratis). Immerhin lernt man nun, auf einem Bein zu stehen – für 18 Euro (inklusive Milonga). „Das ist unser Spielbein, damit können wir ein bisschen spielen.“ Tja, wer käme da ohne Expertin drauf? Kann man bei den Pörnbacher Practicas übrigens kostenlos üben. Und wir Bayern bezahlen dafür den Länder Finanzausgleich…

Nachfolgend ist von der Schülerin Anne die Rede, welche „viele andere Standardtänze ausprobiert“ habe. Hallo – andere Standardtänze… wo bleibt da der Shitstorm derer vom unvergleichlichen Tango argentino?

Eine andere Schülerin wird nun – unter den misstrauischen Blicken des Partners – in die ganz enge Umarmung eingeführt. Auch das ein Zwischenschnitt, der mich sehr amüsiert hat!

Das Kuschelige sei – so die Tangolehrerin – „auch der Grund, warum der Tango überlebt hat“. Da sieht man mal, wo wir in unserem Tanz ohne die Fachleute blieben: Ich Depp hatte mir bislang eingebildet, es hätte an den Tangoshows der 1980-er Jahre und der Musik Piazzollas gelegen. Und die war zu sanftem Geschmuse denkbar ungeeignet. Wie man sich doch täuschen kann!

Dann endlich werden die Kerzen entzündet – nicht wegen des Friedhofs, nein: Die Milonga beginnt, edle Paare schleichen durch den Raum. Es musiziert das „Trio Infernal“ (keine Satire, die heißen wirklich so). Der mit schwarz lackierten Fingernägeln ausgestattete Latino-Sänger intoniert leidenschaftliche Texte, die kaum einer kapiert.

Egal, so das zusammenfassende Statement: Entscheidend sei die Atmosphäre, ein „gewisses Knistern“, das in der Luft liege. Erleichtert stellen wir fest: Von der Live-Musik kann es ausnahmsweise mal nicht kommen.

Ich hatte nichts anderes erwartet: Ums Tanzen im eigentlichen Sinne geht es nicht, eher halt um die „Wellness-Wirkung“. Auch, wenn diese vom Placebo-Effekt herrühren sollte. Man schluckt eben lieber süße Kügelchen statt bittere Pillen.

Und auch die Ausgangsfrage wird schließlich beantwortet: Die Gastgeberin sei zufrieden „mit ihrer argentinischen Tangonacht – mitten in Berlin“.

Ich weiß, dass man mir nun vorwerfen wird, ich müsse jeden noch so netten Filmbeitrag verblödeln. Geschenkt – und jeder sowie vor allem jede kann sich ein eigenes Bild machen. Aber bitte rasch – die Sendung kann man nur eine Woche lang in der Mediathek abrufen:

https://www.rbb-online.de/abendschau/serien/nachtsicht/nachtsicht-tangotanzen-in-berlin.html

Ich finde, mehr ist sie auch nicht wert. Sicher, früher gab es wohl Journalisten, die sich einem Thema mit unvoreingenommener Haltung näherten – also anfangs noch nicht wussten, was am Ende in ihrem Bericht stehen würde. Heute wird meist alles auf ein feststehendes Ziel hin bearbeitet. Und was nicht reinpasst, lässt man weg.

Ich meine, der Tango hat es nicht verdient, in wenigen Sendeminuten mit einigen vorgefassten Klischees zugekleistert zu werden. Tango ist zutiefst dialektisch. Bis heute warte ich auf deutsche Fernsehjournalisten, welche dies kapieren und einmal präzise die Licht- und Schattenseiten unseres Tanzes herausarbeiten. Und das würde länger als drei Minuten dauern!

Aber zur Linderung dieses Mangels gibt es ja immerhin mein Blog

Quelle: https://www.facebook.com/TangoloftBerlin (Post vom 6.2.23)

Illustration: www.tangofish.de

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