Piazzolla und der Tango-Hype

 

Zu meinem gestrigen Artikel fand sich auf Facebook ein Kommentator, der meine Behauptung bezweifelte, der Siegeszug des Tango argentino ab den 1980er Jahren sei auf die damaligen Tangoshows und die Musik Astor Piazzollas zurückzuführen:

Piazolla hätte bestimmt nie einen solchen Boom hervorgebracht.“

Was seiner Meinung nach die Ursache war, hat er bislang nicht erklärt.

Gefühlt habe ich diesen Zusammenhang zwar schon zig Mal angesprochen – mir fiel jedoch ein, dass ich diese Entwicklung wohl nie umfassend dargestellt hatte. Daher habe ich noch einmal die historischen Quellen recherchiert:

Ab zirka 1960 und bis zum Beginn der 80er Jahre verschwand der Tango in Argentinien immer mehr und galt als Tanz einer senilen Minderheit. Ob das nun eher an den einengenden Bedingungen der Militärdiktatur oder den neuen Musikstilen (wie Rock’n‘ Roll oder Beat) lag, ist umstritten. Sicher ist jedoch: Man tanzte halt zu den inzwischen Jahrzehnte alten Aufnahmen aus der „Goldenen Ära“, was die jüngeren Leute nicht begeisterte.

Der Einfluss moderner Tangomusiker wie Piazzolla wird bei Wikipedia umfassend dargestellt:

„Astor Piazzollas neuer konzertanter Tango als avantgardistische Fortsetzung der argentinischen Wurzeln weckte das Interesse für die ursprüngliche Musik (zuerst in Europa, später auch u. A. in Nordamerika und Japan). Piazzollas komplexe Musik und der Tango Nuevo ist eher geeignet für Choreografien auf der großen Bühne, als für den Tanzsaal.

Als Auftragsarbeit für das Festival d’Automne wurde 1983 in Paris von Claudio Segovia und Héctor Orezzoli die Bühnenshow Tango Argentino produziert. Erst seit der Präsentation in Venedig 1984 bekommt der Tanz einen zentralen Stellenwert. Einige der renommiertesten Tangotänzer jener Zeit wie Juan Carlos Copes und Maria Nieves, Mayoral und Elsa Maria, Gloria und Eduardo, Monica und Luciano, Nélida und Nelson, Norma und Luis Pereyra oder Virulazo und Elvira waren mit dabei.

Zum ersten Mal nach vielen Jahren war wieder eine authentische, nicht folkloristische Tangoaufführung außerhalb Argentiniens zu erleben. Die Show war so erfolgreich, dass das Ensemble danach sieben Jahre durch die ganze Welt tourte. Als Nachfolgeprojekt wurde in Europa Tango Pasión mit den gleichen Musikern und ähnlich erfolgreich gestartet. In den USA entstand die Produktion Forever Tango von Luis Bravo. (…)

Vom Erfolg der Shows angeregt, entstanden parallel in Berlin und Amsterdam wieder die ersten Tangotanzschulen, die eine neue europäische Tanzbegeisterung für den originalen Tango auslösten und seine Rückkehr an den Río de la Plata unterstützten.

Ab 1984 begann der Tango in Buenos Aires damit, sein Schattendasein zu verlassen. Die eher am „klassischen“ Tango orientierte Musik wurde mit dem Begriff Guardia Joven (Junge Garde) zusammengefasst. Eine wichtige Rolle spielten Rockmusiker wie León Gieco oder Fito Páez, die sich dem Tango annähern und zusammen mit Tangolegenden wie Roberto Goyeneche oder Osvaldo Pugliese auftraten.“

https://de.wikipedia.org/wiki/Tango_Argentino

Tatsächlich löste die 1983 in Paris (wo sonst…) uraufgeführte Show „Tango argentino“ eine sensationelle Wirkung aus, mit der auch die Produzenten nicht gerechnet hatten. In Argentinien glaubte man nicht an den Erfolg – die Künstler hatten dort sogar Schwierigkeiten, auch nur Probenräume zu finden!

Die Idee war, Musik und Tanz in ihrer ganzen Breite und möglichst realistisch dazustellen. Man engagierte daher nicht nur Bühnentänzer, sondern Milongueros von der Straße. Dazu Live-Musik vom wohl besten Tangoensemble dieser Zeit, dem Sexteto Mayor.

Die Folge war tatsächlich ein Hype: Die Show tourte von 1983 bis 1992 durch die ganze Welt, am Broadway wurde 1999-2000 ein Revival gezeigt. Andere, ähnlich gestrickte Shows wie „Tango Pasión“ und „Forever Tango“ folgten. Der Kritiker der „New York Times“ schrieb 1985:

„All dieser Glamour geht mit einer Show einher, in die selbst Argentinier zunächst nicht investieren wollten, einer Show, die es größtenteils zufällig an den Broadway geschafft hat, einer Show mit einem Bühnenbild, vier Akkordeons (genannt Bandoneons) und ein paar 38-Zoll-Taillen.“

https://en.wikipedia.org/wiki/Tango_Argentino_(musical)

Videomaterial aus diesen Zeiten gibt es leider nur wenig – hier einige kurze Sequenzen:


https://www.youtube.com/watch?v=p4X1xhs01P4

Dieser zündende Funke sprang auch hierzulande auf Personen über, welche man inzwischen zu den „Tango-Urgesteinen“ rechnet. Prominentestes Beispiel ist die gelernte Grafikerin Nicole Nau, die 1988 nach Unterrichts- und Auftrittserfahrungen in Deutschland die Show „Tango argentino“ sah, Feuer fing und auf eigene Faust nach Buenos Aires reiste, um dort den Tango zu erlernen. Sie traf dort aber nur wenige Tanzende an: Die meisten waren weltweit auf Tourneen unterwegs. 1990 gab sie ihre erste Tanzvorführung. Heute gilt sie in Argentinien als Tangolegende.

https://www.swr.de/swr1/swr1leute/tangotaenzerin-nicole-nau-100.html

Natürlich war es nicht die Musik Piazzollas allein, welche die Menschen begeisterte, sondern vor allem auch die moderne, sehr emotionale und dynamische Spielweise der damaligen Interpreten, welche nicht nur auf die Bühnenakteure übersprang. Immerhin bot man in der Show „Tango argentino“ am Schluss drei Piazzolla-Titel, darunter „Adiós Nonino“.

Die „alten“ Einspielungen aus den 30er bis 50er Jahren waren zu der Zeit in Europa gänzlich unbekannt. Was die Menschen damals scharenweise zum Tango trieb, waren die zeitgenössischen Arrangements!

Natürlich waren diese Tangobegeisterten nicht so dämlich, zu glauben, sie würden nun ebenso auf der Bühne herumturnen können wie die Künstler. Aber sie spürten instinktiv, dass ihnen diese Musik unter die Haut ging, ihnen etwas geben konnte, was sie bislang vermissten.

Der Musikwissenschaftler Michel Plisson schreibt in seinem Buch „Tango“:

„Im Gegensatz zu manchen seiner Gegner, die immer noch behaupten, seine Musik sei kein Tango, bin ich der Ansicht, dass Piazzolla den Tango vor dem sicheren Untergang bewahrt hat. Indem er ihm das moderne musikalische Gepräge gegeben hat, das er benötigte, um weiterleben zu können.“ (S. 126)  

Der Rest ist bekannt: Mit dem zunehmenden Ansturm gerieten auch viele zum Tango, welchen dieses Gespür fehlte. Doch für jene hatten die Argentinier auch etwas im Angebot: Die knisternden Schellacks aus versunkenen Zeiten – einfach genug auch für Menschen ohne tänzerische Empfindung. Eilig wurden diese digitalisiert – sie bilden derzeit das Grundgerüst jeder „traditionellen“ Milonga.

Wenn heute Menschen wie ich von der Faszination der damaligen Tangomusik, der Tanzstile erzählen, wissen viele, die erst seit zirka 2010 tanzen, gar nicht, was gemeint ist. Man hat ihnen unter dem Label Tango" etwas anderes verkauft. Vielleicht hilft es ja, gelegentlich davon zu erzählen.

Der Zauber von einst ist weitgehend verflogen. Zum zehnjährigen Jubiläum der AfD las ich neulich, von den einstigen knapp zwanzig Gründungsmitgliedern seien inzwischen die meisten verstorben oder aus der Partei ausgetreten.

Erinnert mich irgendwie an die Tango-Geschichte

P.S. Auf YouTube entdeckte ich den vollen Mitschnitt der Show „Tango Pasión“ von 1997. Natürlich ist die Vorführung zeitgebunden – dennoch rührt mich dabei etwas vom einstigen revolutionären Charakter des Tango an. Wer mal 90 Minuten Zeit hat:


https://www.youtube.com/watch?v=ERQrGa75430

Kommentare

  1. Vielen Dank für den Beitrag, ich bin zwar jetzt erst spät zum Tango als Tänzer gestoßen kann das aber auch bestätigen. Mitte der Achziger durfte ich hier in Singen in der Gems Piazzolla zusammen mit Dino Saluzzi live erleben. Zu der Zeit hat mich diese Musik als Musiker total fasziniert. Musiker und Orchester der Edo waren mir damals völlig unbekannt. Bis vor 6 Jahren überigens auch. In den Achzigern hatte man ein paar Tangos in Bearbeitung von Walter Pörschmann, der aber mit seiner Art zu spielen nicht den Zeitgeist der Argentinier traf. Ansonsten musste man schon gezielt suchen, um mit der Musik vertraut zu werden. 2001 kam ich dann das erste Mal mit dem Tanz hier bei uns in Konstanz mit der Gründung des Tango Libre in Kontakt. Die tanzten damals auch zu Piazzolla und zu allem was sie auf CDs und Kassetten erwerben konnten. Ein Gründungsmittglied konnte mir das bestätigen. Leider ist die Entwicklung etwas abgetriftet. Ich habe aber das Gefühl, dass so langsam die verkrusteten Strukturen wieder etwas aufbrechen und auch vermehrt moderne Tangomusik auf Milongas zu hören ist. Noch etwas zaghaft aber immerhin.

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    1. Lieber Rainer,

      vielen Dank für die Schilderung Deiner persönlichen Erfahrungen!

      Ich meine auch, dass man es mit der Musik auf den Milongas wieder lockerer nimmt - nicht überall natürlich. Aber es gibt durchaus Lichtblicke.

      Herzliche Grüße
      Gerhard

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