Cabeceo zur Zwangsfortbildung?

Derzeit verspüre ich im reaktionären Teil der Tangoszene eine gewisse Nervosität: Irgendwie scheint man mit Forderungen nach „strengeren Gesetzen und härteren Strafen“ auf der Mehrzahl der Milongas nicht durchzudringen. Insbesondere gelingt es offenbar nicht flächendeckend, die Gäste von den Segnungen des Aufforderns durch Anstarren zu überzeugen.

Das klassische Argument für den Cabeceo hat kürzlich ein Schreiber wieder mal auf meinem Blog hinterlassen:

„Auf den Milongas, die ich besuche, sind die Pistenrambos meist die, welche sich beim DJ beschweren, dass nur traditionelle Musik gespielt wird. Zum Glück regelt sich das Problem oft von alleine durch den wundervollen Cabeceo. Wenn ein Mann keine Blicke fangen kann, sollte er zuerst einmal seinen Tanzstil reflektieren und bei Bedarf den örtlichen Gegebenheiten anpassen. Wenn man es als Frau geschafft hat, den Blicken eines solchen Rowdies auszuweichen, und dieser dann auf einen zu stapft, ist dies ein Alptraum – so wurde mir von weiblicher Seite berichtet. Fazit: Wenn man halbwegs gut tanzen kann und eine gute Kinderstube hatte, muss man den/die potentielle Tanzpartner:in gar nicht verbal auffordern. Wenn man es doch muss, sollte man sich Gedanken machen.“

https://milongafuehrer.blogspot.com/2023/02/tango-passionsspiele.html?showComment=1676018131385#c5277476233251448718

Kurz gesagt: Frauen fühlen sich genötigt, wenn sie den Blicken eines Kerls ausweichen und der sie dann trotzdem verbal auffordert. In dem Beitrag klingt aber bereits eine zweite Begründung an, welche Altmeister Cassiel neulich so formuliert hat:

Meiner Meinung nach verhindert der Brauch, eine Dame verbal zu einer Tanda zu bitten, dass sich die entsprechenden Führenden in Kursen weiterbilden.

Nach meinen Beobachtungen kann sich eine Folgende kaum einer direkten Aufforderung verweigern, und ich habe den Eindruck, dass so mancher Verbalaufforderer diesen Umstand bewusst zu seinem Vorteil nutzt. Deswegen sehe ich diese Form der Einladung zu einer gemeinsamen Tanda sehr kritisch. Ich denke, wenn sich alle an das übliche Ritual halten würden, dann würde es mehr Anreize geben, guten Unterricht zu besuchen und in der Folge würden (so hoffe ich) Verletzungsrisiken minimiert.“

Also der Cabeceo als Mittel zur „Zwangsfortbildung“… Ich staune immer wieder, für wie selbstverständlich man es in manchen Kreisen hält, andere zu ihrem Glück zu zwingen. Wenn ich das wieder geschrieben hätt‘…

Leider, so beklagt nicht nur der Blogger aus Pseudonymistan, kneifen viele Organisatoren feige davor, die Tango-Scharia auch durchzusetzen:

Ich weiß nur, dass offensichtlich alle Wünsche von Veranstaltern (oft schriftlich vorab kommuniziert) scheinbar unbeachtet bleiben. Das betrifft sowohl ‚wilde‘ Tänzer, als auch die berüchtigten Verbal-Aufforderer. Die Veranstaltenden sind offensichtlich machtlos. Es gibt da eine scheinbare Schwelle, zu intervenieren. Schließlich möchte sich niemand gerne dem Vorwurf der ‚Tango-Polizei‘ aussetzen.“

Also, diesen Ausdruck würde ich nie verwenden! Schließlich ist die Polizei dem Grundgesetz verpflichtet...

Quelle: https://www.facebook.com/groups/tangoforum/permalink/2440261772807945

Vielleicht gibt es da halt eine gefestigte europäische Tanztradition, nach der es sich um eine Freizeitbeschäftigung handelt, die man sich nicht durch komische Reglements vermiesen lassen möchte. Klar sollte ein Veranstalter eingreifen, wenn es um sexuelle Belästigungen, Gefährdung anderer oder sonst wie grob Unangemessenes geht. Wie ich aber eine Dame auffordere, geht ihn – gelinde gesagt – einen Schmarren an!

Nachdem derzeit Argumentationen wie die obigen mal wieder im Netz kursieren: Buchstabieren wir es doch einmal durch!

Das Ganze fußt ja darauf, dass eine Dame, welche nicht auf mein Anstarren („Mirada“) reagiert, nicht mit mir tanzen will. Ich meine, dies kann im Einzelfall so sein – es gibt jedoch eine Fülle anderer Ursachen:

Glücklicherweise existieren immer noch genug Milongas, auf denen der Cabeceo weniger bekannt oder üblich ist. In dem Fall halten Tänzerinnen nicht nach flehenden Blicken Ausschau, sondern warten, bis Tangueros sie in konventioneller Weise zu einem Tanz bitten.

Vielleicht sind sie auch gerade abgelenkt, weil sie das Geschehen auf dem Parkett beobachten oder in Gespräche vertieft sind. Oder sie haben eitlerweise ihre Brille im Auto gelassen, die Licht- oder Platzverhältnisse sind ungünstig etc.

Weiterhin sind es Frauen gewöhnt, männliche Blicke anzuziehen, welche sich in der Mehrzahl auf ihre Anatomie richten und ihnen daher eher unangenehm sind. Daher ist ihnen die Intention einer männlichen Betrachtung nicht immer klar: „Ist mein BH-Träger verrutscht oder will der mit mir tanzen?“ Manchmal stimmt sogar beides…

Oder man ist sich nicht sicher, ob der Blick einem selber gilt oder der Nachbarin. Es wäre höchst blamabel, dann zu reagieren und hinterher festzustellen, dass man gar nicht gemeint war!

Wird man direkt gefragt, ist die Sache hingegen glasklar.

Dröseln wir das Cabeceo-Dings mal von der anderen Seite auf: Möchte eine Dame, welche auf meinen Blick positiv reagiert, wirklich mit mir tanzen?

Die Befürworter der Methode preisen ja stets den Vorzug, eine Frau könne einfach durch Wegschauen signalisieren, dass sie eine Tanzaufforderung ablehne. Beide würden so „ihr Gesicht wahren“, niemand sonst kriege es mit.

Ich halte das für ein Märchen. Wer ein wenig Milongaerfahrung hat und genauer beobachtet, merkt das in vielen Fällen schon. Vor allem, da diskretes Verhalten nicht gerade zur männlichen Kernkompetenz zählt. In der lokalen Szene kenne ich eine nicht ganz unbedeutende Persönlichkeit, die beim Erklingen der ersten Tanda-Takte wie ein Untoter aus einem Horrorfilm durch die Landschaft geistert, mit starrem Blick eine Tanguera hypnotisierend.

Noch schlimmer: Weggeschaut hat da noch keine. Würde ich ihr auch nicht raten: Der Herr residiert in einem Szene-Machtzentrum. Eine Missachtung der Röntgen-Mirada könnte für die Dame bedeuten, es sich mit dem Inner Circle der Tango-Society zu verderben.

Vor allem aber stelle ich immer wieder fest: Das Grundproblem vieler Tänzerinnen besteht nicht darin, welche Tanzeinladungen sie ablehnen kann, sondern, überhaupt mal aufgefordert zu werden. Daher muss das Eingehen auf eine Mirada nicht bedeuten, dass sie mit dem Betreffenden besonders gerne tanzt. Oft denkt Frau sich halt: „Besser der als gar keiner.“ Oder der von weiblicher Empathie geleitete Ratschluss lautet: „Ich will den armen Kerl nicht enttäuschen.“ Kann auch sein, dass sie überhaupt mal „vorgetanzt“ werden möchte, in der Hoffnung, damit bessere Tanzpartner auf sich aufmerksam zu machen.

Aber klar: Es gibt Dösköppe, die sich völlig grundlos für unwiderstehlich halten und Frauen penetrant auf den Sack – sorry: auf die Eier – gehen. Wenn’s mit dem Cabeceo nicht klappt, dann setzt man sich halt daneben und quatscht die Dame so lange bewusstlos, bis sie den Kerl nur durch eine Tanzrunde loswird (gibt es auch in der weiblichen Version). Oder die Herren pflanzen sich vor der Tanguera auf und fordern eine gemeinsame Tanda.

In diesen – glücklicherweise seltenen – Fällen muss halt ein deutlicheres Signal her, notfalls auch mal eine direkte Ansage erfolgen. Eine Tangofreundin hat die Methode perfektioniert, bei Annäherung blitzschnell abzutauchen, aufs Klo zu flüchten und sich nachher einen anderen Sitzplatz zu suchen. Oder sie bittet mich mit sofortiger Wirkung um einen Tanz. Aus Erfahrung weiß ich: Irgendwann merkt’s jeder!

Wird ein solcher Typ – wie Kollege Cassiel meint – anschließend mehr Tangounterricht nehmen? Ich darf da mal kurz, aber herzhaft lachen! Nein, der sucht sich umgehend eine andere Blöde, welcher er auf den Keks gehen kann. Und eine solche ist auf fast jeder Milonga vorrätig…

Glücklicherweise sind all diese Probleme im Internet viel häufiger als in der analogen Tangowelt. Zumindest auf den Milongas, die ich besuche, kommen fast alle wegen des Tanzens. Mit wem, ist nicht ganz so wichtig. Und dann gibt es halt einige schlechte, viele mittelmäßige und vielleicht sogar einzelne Traumtänze. Beim Tango ist vieles richtig – aber oft auch das Gegenteil. Diese Dialektik muss man aushalten.

Wer mich näher kennt, weiß, wie grässlich ich es fände, mit einer Partnerin zu tanzen, welche das nur akzeptiert, weil sie sich nicht zu einem Korb getraut hat. Hoffentlich würde ich das sofort bemerken und sie nie wieder belästigen. Jenseits allen Larifaris über Aufforderungsriten empfehle ich allen, sensibel zu bleiben. Ein Gespür zu entwickeln, ob man gerade (oder überhaupt) willkommen ist.

Wenn eine Frau aber nur mit mir tanzt, weil grade nichts Besseres in Sicht ist, nehme ich das gerne an. Mache ich öfters auch so!

P.S. Und wenn mir ein DJ mal Carlos Gardel mit einer Schnulze wie „El día que me quieras“ auflegen würde, würde ich die notfalls mit der Hauskatze im Arm tanzen. Leider sind solche Gelegenheiten sehr selten:

https://www.youtube.com/watch?v=Hs8G9q4PfLw

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