Moralischer Narzissmus

Der österreichische Psychiater und Psychotherapeut Raphael M. Bonelli macht durch seine Bücher und Internet-Auftritte viel von sich reden. Nicht alles davon ist mein Fall. Dies gilt auch für die BILD-Zeitung, bei deren Online-Produktionen oft Gespräche unter dem Motto „Vier Teilnehmer, eine Meinung“ geboten werden.

https://de.wikipedia.org/wiki/Raphael_M._Bonelli

Vor anderthalb Wochen behandelte man den Fall des „Klimaaktivisten“-Paares, welches – ein wenig gegen die eigenen Grundsätze – eine Flugreise nach Fernost angetreten hatte. Und dabei auch einen Gerichtstermin schwänzte (Widerspruch gegen den Strafbefehl wegen einer Blockadeaktion).

Die Sache beschäftigte damals Medien und Kabarettisten. Nachdem die Kleber-Fraktion das Ganze zunächst zu rechtfertigen versuchte (reines „Privatleben“), gab man sich dann doch einsichtig und sprach von einer wenig geglückten Aktion.

https://www.focus.de/panorama/welt/klima-kleber-flogen-nach-thailand-ich-will-s-auch-gar-nicht-rechtfertigen-sagt-aktivisten-sprecher-ueber-asien-reise_id_185065038.html

Dieses Ereignis war für Bonelli der Anlass, das Thema „Narzissmus“ aufzugreifen, welches er auch in Veröffentlichungen besprochen hat. Er stellt dazu drei Kriterien auf:

·       Selbst-Idealisierung: „Ich bin der Beste“

·       Abwertung des anderen

·       Selbstimmanenz: Ich erkenne nichts Höheres als mich selbst an.

Diese Haltung werde immer häufiger, besonders in der Politik. Das sei nun ins Moralische gekippt: Die eigene Meinung sei nicht nur überzeugender, sondern die einzig gute. Das Gegenüber habe eine „böse Meinung“, was zu völliger Intoleranz führe. Und damit in die Cancel Culture, die „soziale Vernichtung“ des anderen. Referenten würde beispielsweise der Saal für ihre geplante Veranstaltung gekündigt.

Der moralische Narzisst glaube, dass er besser sei als die anderen, und dass er sich daher alles erlauben könne. Die goldene Regel „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu“ gelte für ihn nicht.  

„Der Narzisst sagt: Ihr müsst gut zu mir sein, aber ich bin nicht gut zu euch, weil ich bin besser.“

Dies sehe man beispielsweise bei den „Klima-Klebern“: Sie organisierten sich nicht nach dem objektiv moralisch Guten, sondern definierten ihre Ansichten als gut.

Narzissmus stecke in jedem von uns, die Frage sei nur, ob man sich bereit dazu finde, dagegen anzukämpfen: Respekt oder Ellbogen?

Ein Symptom für diese zunehmende Tendenz sieht Bonelli darin, dass Gespräche zwischen politischen Gegnern immer seltener würden. In seiner Jugendzeit habe man sich noch mit Linken oder Rechten die Köpfe heiß diskutiert. Wer heute mit den Falschen rede oder ihnen ein Interview gebe, riskiere eine „Kontaktschuld“: Egal, was man sage – es sei bereits ungehörig, sich mit bestimmten Leuten überhaupt zu unterhalten. Auf den Inhalt komme es dann gar nicht mehr an. Das sei „krank“.

Ein anwesender Abgeordneter (leider werden die Namen nicht angezeigt) meint dazu: Für ihn sei es früher selbstverständlich gewesen, politische Gegner bei Sitzungen höflich zu begrüßen, ihnen zuzuhören und ihre Meinung zu erwägen. Und dann eben zuzustimmen oder zu widersprechen. Der andere natürlich ebenso. Demokratie funktioniere nur, wenn Menschen miteinander redeten. Nur mit Mehrheiten durchzuregieren sei „Demokratur“.

Ein anderer Teilnehmer hält die „Bequemlichkeit“ für eine wichtige Ursache. Erst verlasse man den Diskurs, dann verweigere man sich ihm, und wenn man sich ihm gar nicht mehr entziehen könne, töte man Diskussionen damit ab, dass man „ad personam“ gehe: Man müsse sich nicht mehr mit den Argumenten auseinandersetzen, wenn man dem anderen ein gesellschaftlich unakzeptables Etikett anklebe. Daher rühre die „Seuche“, Andersdenkende sofort als links- oder rechtsradikal zu beschimpfen. Das sei weniger anstrengend als eine Sachdebatte.

Bonelli weist auf die „Kultur der Empörung“ hin, welche zutiefst narzisstisch sei. „Der Narzisst sagt: Wie kannst du nur so böse sein, wo ich doch so gut bin?“ Dies sei zum „guten Ton“ geworden: Wer sich nicht empöre, gehöre nicht zu den besseren Menschen. Man müsse klarmachen, dass diese Überheblichkeit zu nichts führe.

Hier das Video der Diskussion:

https://www.youtube.com/watch?v=MMsKgx_ZG1I

Ich glaube, dieses Thema bezieht sich nicht nur auf Klima-Aktivisten oder Politiker. Es spiegelt es sich auch in Tango-Debatten, mit denen ich ja reichlich Erfahrung habe.

Erst gestern stieß ich wieder auf eine Affäre, in die ich 2021 geriet: Einen harmlosen Aprilscherz quittierte einer meiner Gegner damit, mich in einer Facebook-Gruppe auszurichten: Ob ich denn für unsere „Wohnzimmer-Milongas“ GEMA-Abgaben löhne? Wortreich legte man dar, dass ich dazu verpflichtet sei – und in der Vergangenheit wohl solche Zahlungen zu Unrecht unterlassen hätte. Auch im Berliner Tango musste ich mich bei anderer Gelegenheit dazu hochnotpeinlich befragen lassen:

Gerhard Riedl, gebt ihr euere Einnahmen der Hobbyausübung auch korrekterweise beim Finanzamt an, als nebenberufliche Tätigkeit?? Das dann in euerer Einkommenssteuer mit berechnet wird??? Zahlt ihr Gema für euere Hobby- Tangoaktivitäten? Das machst du doch auch nicht unbezahlt, oder?? (...)
Du bist verpflichtet, jeden Cent, der rollt, egal ob in den Hut geschmissen oder im Wohnzimmer aufzuzeichnen und dem Finanzamt mitzuteilen. Ob du daraus Gewinne erwirtschaftest oder nicht, ist erst einmal nicht von Belang. Machst du deine Veranstaltungen im heimischen Wohnzimmer und nimmst kein Geld????? Spielst du gemafreie Musikstücke???? Von wem hast du Tango gelernt????"

https://milongafuehrer.blogspot.com/2021/04/post-vom-intriganten.html

https://milongafuehrer.blogspot.com/2020/06/die-tango-mafia-lasst-dissen.html

Es waren nicht die einzigen Versuche, meine Arbeit in ein ungesetzliches Licht zu rücken. Denn nur darum ging es diesen Kritikern – und nicht etwa um Steuergerechtigkeit. Selber habe ich noch nie andere Personen – ob privat oder gar öffentlich danach gefragt, ob sie ihre Einkünfte auch ehrlich anmeldeten oder Abgaben unterschlügen. Das geht mich erstens nichts an – und zweitens ändert es an den Tangothemen, um die es mir geht, genau nichts.

Hauptsache Empörung – in meinem kürzlich erschienenen Video habe ich ja einen solchen Fall geschildert. Die ergab sich meist auch, wenn ich bekannte Tangogrößen einmal satirisch beleuchtete. Standard war die Reaktion: Die hat man nicht zu kritisieren, denn die seien ja gut – und man selber logischerweise böse oder zumindest inkompetent.

https://milongafuehrer.blogspot.com/2022/05/walzer-aus-dem-stand.html

Ließ man früher bevorzugt Schimpfkanonaden los, lautet die Strategie seit einiger Zeit: totschweigen. Mit Leuten wie mir redet man einfach nicht mehr – und wer es dennoch unternimmt, gehört eben auch nicht mehr dazu. Und man ist vorsichtiger geworden und teilt manche Texte oder Bilder nur noch mit „Facebook-Freunden“. Was natürlich die eigene Öffentlichkeitswirkung begrenzt. Immerhin!

Wahrlich, der „moralische Narzissmus“ ist im Tango sehr verbreitet: Statt über Themen wie Milonga-Rituale, Musikauswahl oder Emanzipation offen und sachlich zu diskutieren, macht man daraus eine Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse.

Um noch auf den Whataboutism „Machst du ja selber“ einzugehen. Nein, mache ich nicht. Ganz bewusst schlage ich mich in unserem Tanz nicht völlig auf die eine oder andere Seite. Sicherlich habe ich beispielsweise die Musikprogramme auf „traditionellen“ Milongas oft kritisiert – aber erst kürzlich (nicht zum ersten Mal) deutlich gemacht, was mich bei Neo-DJs oft gewaltig nervt. Und wer auf den Cabeceo schwört, ist nicht „böse“. Ich erlaube mir aber kritische Anmerkungen dazu – nicht mehr und nicht weniger.

Ich schrieb einmal, das Hauptthema meines Tangoblogs sei die Frage: „Ist das wirklich so?“ Moralischen Abhandlungen oder gar Heilslehren gegenüber bleibe ich stets skeptisch. Und ich möchte meine Leserinnen und Leser unterhalten, indem ich sie zum Lachen bringe. Bei allen schaffe ich das zwar nicht, aber doch bei vielen.

Und die über 4000 Kommentare auf meinem Blog (und die unzähligen Antworten auf Facebook) zeigen: Ich lasse mich gerne auf Gespräche ein – falls der andere es auch tut und mir nicht nur eins auf die Mütze geben will.

Vor allem aber halte ich mich nicht für den besten Experten, Tänzer, Tangolehrer oder Autor. Auch, wenn das im Tango ungewöhnlich sein mag…

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