Der Casus Bello

„Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; / doch am größten unter ihnen ist die Liebe.“ (1 Kor 13,1ff.)

https://de.wikipedia.org/wiki/Hohelied_der_Liebe_(1._Korinther_13)

Wenn man sich durchliest, wie mich die Internet-Tangoszene in all den Jahren attackiert hat, könnte man meinen, ich schwebte bei Milongabesuchen öfters in der Gefahr, tätlich angegriffen zu werden. Bislang machte ich jedoch stets gegenteilige analoge Erfahrungen.

Einer Tanzkritikerin der renommierten „Frankfurter Allgemeinen“ ging es vor einigen Tagen allerdings auch körperlich an den Kragen. Das kriegsauslösende Ereignis: Sie hatte es wohl gewagt, den international angesehenen Ballettdirektor der Staatsoper Hannover, Marco Goecke, negativ zu rezensieren.

Die FAZ-Autorin Wiebke Hüster fasste ihren Eindruck von Goeckes aktueller Inszenierung „In the Dutch Mountain“ am Nederlands Dans Theater in Den Haag wie folgt zusammen:

„Bloß wirkt das Stück so, als wären dem hinter der Scheibe sitzenden Meeresbeobachter die Trolle durch seine Aufzeichnungen geritten und hätten Goecke die zerfetzten Fragmente hinterlassen mit der Drohung, sie ja nicht sinnvoll in eine Reihenfolge zu bringen. Man wird beim Zuschauen abwechselnd irre und von Langeweile umgebracht. Dazwischen kommen ab und an zwei genialische, stimmige Minuten. Das Stück ist wie ein Radio, das den Sender nicht richtig eingestellt kriegt. Es ist eine Blamage und eine Frechheit, und beides muss man dem Choreographen umso mehr anlasten, als Virtuosität und Präsenz der Tänzer des Nederlands Dans Theater nach mehr verlangen.“

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buehne-und-konzert/wiebke-huesters-theaterkritik-ueber-marco-goeckes-neues-stueck-18669800.html

Hui, das ist schon heftig! Und an der Stelle darf ich meine werten Kritiker doch wieder einmal bitten, sich den Schaum vom Mund abzuwischen: Ich bewerte Tänzerisches nicht halb so giftig – und betone zudem stets, lediglich meine persönlichen Eindrücke zu schildern.

Am vergangenen Samstag hatte nun in Hannover ein Werk Goeckes Premiere, welches sich sinnigerweise „Glaube – Liebe – Hoffnung“ betitelte. Der Ballettdirektor, wohl auf der Suche nach dem fehlenden l" im Nachnamen, hatte zum Event seinen Dackel mitgebracht und stellte sich in der Pause der Kritikerin in den Weg: Was sie denn hier überhaupt zu suchen hätte? Er warf ihr vor, für die Abonnements-Kündigungen in Hannover verantwortlich zu sein, und drohte ihr ein Hausverbot an. Und warum sie Kritiken mit so persönlichen Angriffen schreibe?

Als die Debatte nicht zur Zufriedenheit des Ballettchefs verlief, holte der eine Tüte mit Hundekot (wohl aus heimischer Produktion) hervor, drehte diese um und beschmierte das Gesicht der Journalistin mit – man kann es nicht anders sagen – Köterkacke.

Die Intendantin war bestürzt und entschuldigte sich umgehend persönlich und öffentlich bei der Angegriffenen. Zur Säuberung wurde Wiebke Hüster der Waschraum der Intendanz zur Verfügung gestellt. Gegen Goecke würden arbeitsrechtliche Konsequenzen geprüft.

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buehne-und-konzert/eklat-in-hannover-attacke-mit-tierkot-auf-unsere-tanzkritikerin-18672999.html

https://www.ndr.de/kultur/buehne/Ballettchef-Goecke-beschmiert-Kritikerin-in-Hannover-mit-Hundekot,goecke114.html

Na ja, wird wohl eine Abmahnung geben… Da die Journalistin umgehend Strafanzeige erstattete, dürfte es für den Ballettchef wohl einen Strafbefehl setzen. Ich vermute, so um die 100 Tagessätze. Dazu kommt, falls die Journalistin dies einklagt, ein Schmerzensgeld, welches ich im unteren Tausenderbereich verorte.

Ob es sich bei der Fäkalien-Attacke um eine Körperverletzung handelt, bezweifle ich. Sicherlich aber um eine tätliche Beleidigung (§ 185 StGB), für die es Geldstrafe oder bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe geben kann.

https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__185.html

Völlig zu Recht schreibt die FAZ dazu:

„Die bewusste Herabsetzung und Erniedrigung, die aus der vorbereiteten Exkrementen-Attacke hervorgeht, nehmen wir sehr ernst. Sie zeugt vom fatalen Selbstverständnis einer Persönlichkeit in hoch subventionierter Leitungsfunktion, die meint, über alle kritische Beurteilung erhaben zu sein und sich ihr gegenüber im Zweifelsfall auch durch Anwendung von Gewalt ins Recht zu setzen. In Zeiten, in denen im Kunstbetrieb Sensibilität und Achtsamkeit auf allen Ebenen proklamiert wird, ist das eine besondere Perfidie.“

Schön, dass nun nach politisch Radikalen auch Künstler meinen, Journalisten verdienten bei unfreundlicher Berichterstattung eins auf die Backe. Das eint doch die Geister, nach denen niemand rief…

Aber immerhin hat in dem Fall ja nicht der Ballettdirektor Scheiße produziert, sondern sein Bello!

Was ich mich wieder einmal frage: Hätte nicht eine Frau, welche auf die Sechzig zugeht, den Verriss geschrieben, sondern ein jüngerer Mann mit athletischer Figur – hätte der gut fünfzigjährige Goecke dann auch den Kackbeutel ausgepackt? Oder es wohlweislich gelassen in der Befürchtung, dass der Angegriffene ihm das verpasst, was wir in der Holledau eine „Bockfotz’n“ nennen?

Sicher – der Ballettchef ist in seinem Metier eine anerkannte, ja gepriesene Autorität. Und eine solche darf man im Tanz – kenne ich vom Tango sehr gut – keinesfalls kritisieren. Sonst hat man sich Attacken verschiedenster Art – so konnte ich das oft genug lesen – „selber zuzuschreiben“. Man hätte ja auch seine Klappe halten können. Machen doch im Tango die meisten...

Ich hoffe, die angegriffene Journalistin lässt sich den Schneid nicht abkaufen. Tue ich schließlich auch nicht – wobei mir Situationen wie diese bislang erspart blieben. Na gut, digitale Hausverbote habe ich mir bereits eingehandelt – aber auf den Tangoveranstaltungen wurde ich stets aufgeschlossen und freundlich behandelt.

Na ja, wirklich? Neulich auf einer Metropolen-Milonga verspürte ich ansatzweise erstmals eine Art von latenter Feindseligkeit… Aber wahrscheinlich bilde ich mir das nur ein. Und ich hätte Artikel wie diesen ja auch lassen können:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2019/06/des-kaisers-neue-tandas.html

Und von einem Hund wurde ich auf Milongas nur einmal belästigt. Eine Besucherin platzierte direkt neben uns auf der Couch einen Rehpinscher im Körbchen, um sich anschließend auf der Tanzfläche zu verlustieren. In Kommentarbereich fragte ich damals meinen Tangofreund Peter Ripota:

„Eine Frage aber bleibt für mich ungelöst: Wie reagiere ich korrekt auf die Mirada eines Rehpinschers?“

Seine Antwort:

„Nicken, wenn du mit ihm tanzen willst, ansonsten ignorieren!“

https://milongafuehrer.blogspot.com/2014/10/tango-verkehrsordnung.html 

P.S. In guter journalistischer Tradition wollen wir abschließend noch Marco Goecke das Wort geben:

https://www.youtube.com/watch?v=e8EUkiLf9v0

Kommentare

  1. Die Theaterleitung hat nun reagiert und Goecke mit sofortiger Wirkung suspendiert sowie ihm Hausverbot erteilt. Er habe in den nächsten Tagen Gelegenheit, sich bei der Journalistin zu entschuldigen und sich gegenüber dem Arbeitgeber zu erklären. Dann werde über das weitere Vorgehen entschieden.
    Auf seinem Instagram-Account gibt sich der Ballettchef aber weiter uneinsichtig: "Ich arbeite seit 25 Jahren, und schlechte Kritiken sind mir egal! Aber es gibt Grenzen! Das würde sich niemand, der ein Geschäft hat gefallen lassen!"

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