Annettes DJ-Philosophie


„Die Masse könnt Ihr nur durch Masse zwingen,
ein jeder sucht sich endlich selbst was aus.
Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen;
und jeder geht zufrieden aus dem Haus.“
(Goethe: Faust – Vorspiel auf dem Theater)

Eigentlich habe sie nur einen Kommentar zu meinem gestrigen Artikel schreiben wollen, so meine Leserin Annette von „Tango Diavolo“ in Offenbach. Aber dann sei es ein Gastbeitrag geworden. Sie legt regelmäßig in ihrer dortigen Milonga auf, spielt selber Tangomusik und veröffentlicht viele ihrer Playlisten:

Annette ist in beiden Welten – dem traditionellen und zeitgenössischen Tango – zu Hause, was sie sicher unter den DJs zu einer Ausnahmeerscheinung macht. Ich bin daher sehr froh, dass sie mir erlaubt hat, ihren Text zu veröffentlichen:

EdO, Non-Tango, Neotango, Tango Nuevo und die Mühen, alle glücklich zu
machen


Musikgeschmack ist ein unendliches Thema! Wenn man bei Google „Über ges“
eingibt, sind die ersten beiden Auswahlmöglichkeiten „Über Geschmack
lässt sich streiten“ und „Über Geschmack lässt sich nicht streiten“.
Trotzdem ist es erstaunlich, dass es gerade im Tango besonders viel
Streit gibt, obwohl es doch noch so viele weitere Musikstile gibt und
Tango nur ein winziger Ausschnitt der Musikwelt ist.

Du hast Dich in vielen Blogbeiträgen gewundert, warum so viele Leute die
Musikauswahl rein auf bestimmte Aufnahmen der Epoca de Oro (EdO)
beschränken wollen. Nun wunderst Du Dich, warum es Milongas mit so viel
Non-Tango gibt („Ich habe fertig.“). Diese Verwunderungen kenne ich! Daher
kommen hier mal ganz unmaßgeblich ein paar Beobachtungen aus meinen
DJ-Erfahrungen:

Erst mal: Ganz viele Kompositionen aus der EdO-Zeit sind wunderbar, auch
die Arrangements. Viele sind mehr als nur Tanzmusik, sondern auch Kunst.
Wobei ich auch Tanzmusik, die sich selbst nicht als „Kunst" versteht,
manchmal großartig finde, aber manchmal auch schrecklich! Außerdem ändert
sich der Geschmack mit vielem Hören.

Es gibt Musikstücke aus der Klassik, die große Kunst sind, aber
obendrein sehr eingängig, so dass man sie wirklich nicht mehr hören
kann. „Für Elise" ist so ein Beispiel.

Wenn man aber 7-jährige Klavierschülerin ist und „Für Elise" toll findet,
ist das einfach nur schön und hat Potenzial. Wenn es ein Dudelton in
einer Telefonwarteschleife ist, ist das Folter. Ein Junge, den ich
kenne, hat in seinen sehr frühen Jahren viel mit seiner Mama gesungen,
alle eingängigen Kinderlieder, die es so gibt, u.a. auch mit Mamas
Klavierbegleitung (typisches Harmonieschema Dur: Tonika – Dominante –
Subdominante – Tonika). Als der kleine Junge 5 Jahre alt war, hörte er
zufällig Schlager von Heino und war begeistert! Immer und immer wieder
wollte er das hören, das war eben seine Musik. Zum Glück ging den Eltern
das Glück ihres Kindes über ihre Genervtheit. Wenige Jahre später war
dem Jungen – inzwischen Geigenschüler – diese Geschichte schrecklich
peinlich.

Als Klavierschülerin ging mir das früher oft so: Der Lehrer spielte ein
Stück vor, ich war enthusiastisch, aber nach einiger Zeit des Übens hing
es mir zum Hals raus. Oder: Der Lehrer spielte ein Stück vor, ich fand
es unverständlich, aber er überredete mich, es trotzdem mal zu
versuchen. Und nach einiger Zeit entdeckte ich erst die Schönheit des
Stückes. Diese Stücke liebe ich bis heute.

So, und zurück zum Tango: Es gibt unterschiedliche Teilnehmer in
Milongas. Statt nach Tanzerfahrung („Anfänger“, „Fortgeschritte“ oder
so) kann man sie viel besser verstehen, wenn man ihre Beziehung zur
Musik beachtet: Musikalische Leute, egal ob tanzerfahren oder nicht,
hören zu, sie hören insbesondere auf die Melodie. Solche scheren sich
wenig um Kategorisierungen wie EdO, Nuevo, Neo, Non-Tango usw. Sie
finden eine Musik schön oder nicht, nach Gefühl. Manchmal kommen sie
sogar zur DJ und erkundigen sich nach einem Musikstück, manchmal
bedanken sie sich auch. Meiner Erfahrung nach kommt bei den
musikalischen Leuten Tango Nuevo besonders gut an. Wenn sie dann länger
tanzen, hängen ihnen manche Stücke dann wegen des Für-Elisen-Effekts zum
Hals raus. Weil es so viele Tradi-Milongas mit den immer gleichen Titeln
gibt, sind das dann auch einschlägige Tradi-Stücke.

Die weniger musikalischen Leute sind auch nicht alle gleich. Sie wollen
tanzen und brauchen Rhythmus. Sie sind überfordert von zu schwierigen
Harmonien, Ritardandi oder Fermaten. Böse Zungen behaupten, es reiche,
denen ein Metronom hinzustellen. Bei denen kommen sowohl EdO als auch
techno-ähnlicher Neo am besten an, Nuevo-Stücke nur mit wenigen Ausnahmen.

Wenn solche Leute auch noch aus irgendwelchen Gründen ängstlich sind,
oder perfektionistisch, oder Angeber, wollen sie vor allem
wiedererkennbare Stücke, weil sie dann nicht überrascht werden, z.B. von
einem Accelerando. Diese Leute sind dann die Einschränker, die nur noch
die immer gleichen, ganz bestimmten Stücke aus der EdO-Zeit wollen und
sonst gar nichts.

Dann gibt es die, die vielleicht musikalisch sind, aber erst wenig
Hörerfahrung haben (wie z.B. der oben zitierte 5-jährige Junge). Sie
freuen sich über leichte, eingängige Melodien, gerne auch welche, die
sie irgendwoher schon kennen. Die fragen dann schon mal bei einem
genialen, aber harmonisch schwierigen Tango Nuevo: „Kannst Du nicht mal
was Schönes spielen?“ Bei denen kommen vor allem Non-Tangos gut an, wie
z.B. von Annett Louisan. Auch die hören gern bestimmte Lieblingsstücke
ganz oft. Sehr beliebt ist das erste Album von „Kovacs“, was wirklich
sehr fabelhaft und toll ist, aber ich habe das jetzt so oft gehört, dass
es mir ein wenig in die Für-Elisen-Richtung geht. Aber ich bin nicht so,
halte viel aus. Den Musikalischen mit wenig Erfahrung muss man natürlich
auch die gängigen EdO-Stücke vorspielen, genau wie man kleinen Kindern
auch Kinderlieder vorsingen soll.

Schließlich gibt es in der Musikauswahl auch manchmal Humor: So habe ich
ein paar chinesische Tangos gefunden, die ich zwar nicht für Kunst
halte, die sich aber eindeutig sowohl chinesisch als auch wie Tango
anhören. Auch alte deutsche Tangos sind manchmal witzig oder ironisch,
oder können zumindest heutzutage so empfunden werden. Solche kleinen
Perlen kann man ab und zu sehr sparsam als Überraschung einsetzen, wenn
das Publikum in einer passenden Stimmung zu sein scheint.

Natürlich ist diese Einteilung zu schlicht, in Wirklichkeit vermischt
sich das, und jeder ist individuell verschieden.

Als DJ bin ich da ziemlich gutmütig, ich möchte alle mal glücklich
machen, und dafür präsentiere ich immer die volle Mischung. Ich kenne ja
viele der Pappenheimer auf der Piste und weiß, wen ich mit welcher Musik
wie triggere. Mich selbst mache ich natürlich auch glücklich, und wenn
jemand Wünsche hat, nehme ich die ernst. Wenn ich sehe, dass gerade der
Lieblingspartner einer Stammtänzerin gekommen ist, lege ich schon mal
extra die Lieblingsmusik der beiden auf. Und wenn zwei gerade auf eine
Tanda mit ihrer Musik getanzt hatten, halten sie es auch aus, wenn
danach was kommt, was ihnen nicht so liegt. Aus dem Grund teile ich
meine Musik in Tandas zu je vier ähnlichen Titeln ein. Dann gibt es
keine Enttäuschungen.

Ein Punkt, in dem sich die meisten Tangofans einig sind: Wir wünschen
uns das von Dir erwähnte „geheimnisvolle, schwer zu beschreibende
Tangogefühl“. Schwer zu sagen, wodurch das entsteht, durch eine
Mischung aus sentimentalen Melodien, tango-spezifischen Harmonieschemata
und Stilelementen, Mischungen von Moll und Dur, etwas Kitsch,
tango-typischer Instrumentierung und einfach durch die Kunst der
Musiker, Komponisten und Arrangeure, sehnsuchtsvolle Gefühle
hervorzurufen. Es gibt Non-Tangos, die das auch können, und es gibt
Tangos, denen das nicht gelingt. Und eben unterschiedliche Hörer.

Am wunderbarsten klappt das mit Live-Musik. Es gibt großartige
Ensembles, die auf die EdO-Kompositionen zurückgreifen, aber diese
genial neu arrangieren und instrumentieren. Auf ihre Musik zu tanzen ist
ein großes Glück.

***

Vieles, was Annette schreibt, spricht mir aus dem Herzen!

Ihre Unterscheidung der Milonga-Besucher nach musikalischer Erfahrung und Begabung ist aus meiner Sicht ziemlich realistisch. Daher sollte ein vielfältiges Angebot selbstverständlich sein.

Und wie schön, wenn es dann ein(e) DJ sogar schafft, für ein einzelnes Paar dessen Lieblingstanda aufzulegen! Ich kann das völlig nachvollziehen: Eine Runde Piazzolla würde bei mir dazu führen, anschließend eine Stunde Gedudel friedlich zu ertragen (für mich persönlich ein eher theoretisches Beispiel…).

Annettes Erfahrungen zeigen aber auch: Musikgeschmack kann sich wandeln! Was zuerst sehr sperrig und ungewohnt klingt, kann einen später durchaus packen. Nur – und das predige ich nun seit einem Jahrzehnt – wenn man seine Gäste durchgehend auf leichtfassliche Tangoschnulzen aus der „Goldenen Epoche“ konditioniert, dann ändert sich eben genau nichts – wie seit mindestens 15 Jahren in der konservativen deutschen Tangoszene. Außer, dass es zu einem Personalaustausch kommt: Die musikalisch Begabteren flüchten, der Rest stürmt die Milongas.

Ansonsten, auch hier wiederhole ich mich, kann ich mit vielem leben – EdO, Non-Tango, Neotango und vor allem Tango Nuevo. Nur bitte in einer schönen Mischung – und vorwiegend Tango!

Nochmals ein herzlicher Dank an meine Tangofreundin Annette, von der ich viel gelernt habe. So war mir die niederländische Sängerin Sharon Kovacs bislang völlig unbekannt. Damit das meinen Lesern nicht so geht, hier eine Kostprobe aus ihrem ersten Album „Shades of Black“. Ist das nun Nontango oder Neotango? Egal, ich werde es demnächst mal auflegen:

Kommentare

Hinweis zum Kommentieren:

Bitte geben Sie im Kommentar Ihren vollen (und wahren) Namen an und beziehen Sie sich ausschließlich auf den Inhalt des jeweiligen Artikels. Unterlassen Sie herabsetzende persönliche Angriffe, gegen wen auch immer. Beiträge, welche diesen Vorgaben nicht entsprechen, werden – ohne Löschungsvermerk – nicht hochgeladen.
Sie können mir Ihre Anmerkungen gerne auch per Mail schicken: mamuta-kg(at)web.de – ich stelle sie dann für Sie ein.